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Historischer Schritt

Der neue Bentley Continental GT wird zwar erst im Herbst 2017 präsentiert, wir durften ihn trotzdem schon im Zuge eines Vorserientests fahren.

Text und Fotos: Jürgen Zöllter/mid

Sie zählt zu den eher unbekannten Pretiosen Großbritanniens, gelegen auf einer dem Festland vorgelagerten waliser Insel im Atlantik: eine Rundstrecke mit Meeresblick. Einheimische nennen sie "Trac Môn". Doch offiziell heißt der 3,4 Kilometer lange GP-Kurs "Anglesey Circuit".

Versteckt hinter Weideland für Abertausende Wollschafe, gilt er als Geheimtipp der britischen Rennsport-Gemeinde. Denn er ist anspruchsvoll und exzellent gewartet. Aufmerksamkeit für den Rest der Welt genießt er wegen seiner Nähe zu Crewe, der Heimat von Bentley Motors. Die Entwicklungsingenieure der Marke verbrennen hier viel Reifengummi.

So auch heute, als Bentley-Technikvorstand Rolf Frech und der für die jüngste Neuentwicklung verantwortliche Cameron Paterson mit einem Bentley Continental GT sowie zwei brandneuen Coupés der Nachfolge-Generation mit dem Entwicklungscode BY634 einfahren. Es geht darum, zwei erste Fahrzeuge der Produktionsvorserie zu evaluieren. "Das Auto ist der Hammer!", platzt es aus Rolf Frech heraus. Er lädt zur Vergleichsfahrt ein. Zunächst lernen wir im aktuellen Zweitürer die Rundstrecke kennen, lesen die Brems- und Einlenkpunkte. Der seit 2003 produzierte und 2011 aufgefrischte Continental GT hinterlässt auf dem Anglesey Kurs eine gute Figur. Seine 575 PS machen ihm ordentlich Beine. Doch dann fährt Rolf Frech den BY634 in die Pitlane. Und plötzlich öffnet sich nicht nur die Tür eines neuen Hochleistungs-Coupés, sondern eine zur völlig neuen Bentley-Welt.

Mit Druck auf den Starterknopf in der Mittelkonsole springt dessen umfassend überarbeitetes 6,0-Liter-V12-Aggregat ins Leben. Einmal nur bellt es kräftig auf, fällt dann in einen vornehm säuselnden Leerlauf zurück. Gleichzeitig kommt Leben ins Cockpit: Dort leuchten digitale Anzeigen auf. Technisch basieren Hard- und Software im Hintergrund auf der jüngsten Generation des Modularen Infotainment-Baukastens (MIB) der Volkswagen-Gruppe. Sichtbar jedoch ist eine eigenständige Bentley-Grafik. Und wo liegt der zentrale Bildschirm des Infotainment-Systems versteckt?

Cameron Paterson lächelt amüsiert - und drückt einen unscheinbaren Knopf im Armaturenträger. Daraufhin rückt ein Quader daneben um etwa einen Millimeter zurück, dreht sich um die Querachse und fügt sich wieder bündig ein. Jetzt blicken wir auf einen 12,3-Zoll-Bildschirm mit Navi-Karte. Paterson drückt erneut, und nach einer weiteren Rolle vorwärts liegen drei analoge Instrumente im Blickfeld. "Einen Namen für die dreifache Rolle vorwärts haben wir noch nicht", sagt er. "Intern sprechen wir von der Toblerone." Hinter der aufwändigen Konstruktion steckt die Idee, den Bentley-Kunden entscheiden zu lassen, wann er die umfassenden Informationen und Konnektivitäts-Dienste nutzen oder sich lieber ausschließlich dem Fahren widmen möchte. Von der neuen fahrdynamischen Schärfe kosten wir, als der Gasfuß fällt.

Mit sonorem Gurgeln nimmt der zwangsbeatmete Zwölfender seine Arbeit auf. Die Massenträgheit drückt uns in die Sitze. Faszinierend, wie nachhaltig geschätzte 1.000 Newtonmeter Drehmoment die Fuhre anschieben. "Die neue Overboost-Funktion", lächelt Cameron Paterson.

Sie lässt auf der Einlassseite bei geöffneten Drosselklappen für kurze Zeit mehr Atemluft rein, was zu einem Leistungskick führt. Es wird deutlich: Dem neuen Conti-Reifen auf 20-Zoll-Felgen heizt die bislang schärfste Variante des Zwölfzylinder-Motors ordentlich ein. Die beißen sich in den Asphalt, und der Bentley stürmt los als gebe es kein Morgen.

Ohne Unterbrechung wirft das Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe die zweite Stufe ein, einen Wimpernschlag später schießt die Tachonadel über die 100-km/h-Marke. Es sind nicht einmal vier Sekunden vergangen! Wir fahren im Sport-Modus der Fahrdynamikregelung, alle Muskeln des Bentleys sind gespannt. "Mehr als 300 km/h sind möglich", gibt Frech zu Protokoll.

Dann naht eine Rechtskurve: Vollbremsung und noch im Verzögern einlenken. Das zwingt den stabilsten GT in die Knie - normalerweise. Doch der Bentley bleibt hochstabil, nicht einmal eine Korrektur seiner Lenkung ist nötig. Sehr fein nachjustieren kann man mit dem Gasfuß.

Der spontan ansprechende Motor sowie dessen hecklastige Momenten-Verteilung machen's möglich. Dass uns ausgerechnet jetzt in den Sinn kommt, dass Rolf Frech und Bentley-Chef Wolfgang Dürheimer über viele Jahre hinweg Porsche-Flitzern Sportgeist eingepfiffen haben, kann kein Zufall sein. Diesen Bentley umweht der Stallgeruch Weissachs.

Mit Bentley-Ingenieuren auf Erprobungsfahrten haben wir vom frischen Wind gekostet, der die ehrwürdige britische Marke aktuell kräftig durchbläst. Das neue Coupé zehrt nicht länger nur vom Flair traditioneller britischer Automobilkunst. Vielmehr möchte Bentley künftig neue Trends setzen: Einen Hochleistungs-Sportwagen auf die Räder stellen, der nicht nur in seiner konsequent luxuriösen, sondern auch in sportlicher Ausprägung einzigartig ist.

Den Grundstein dafür legt die Hybrid-Bauweise der Fahrzeugstruktur mit hohem Aluminium-Anteil, um das Gewicht der Luxus-Ausstattung und zahlreicher innovativer Systeme zu kompensieren. "Wir bauen rund 200 Kilo leichter als der Vorgänger", freut sich "Mister Continental" Paterson, "die Vorderachse ist 135 Millimeter nach vorn gewandert, zur Optimierung der Gewichtsverteilung."

Das Herz des neuen Zweitürers setzt neuerdings auf kombinierte Krümmer- und Direkteinspritzung sowie Zylinderabschaltung unter Teillast. Die komplett neuen Twin-Scroll-Turbolader erlauben rund 80 Prozent schnelleres Boosten. Weit mehr als 600 PS reißen den Bentley schließlich nach vorn und lassen kaum spüren, dass hier ein noch immer zwei Tonnen schweres Coupé unterwegs ist.

Um die gewaltige Motorleistung mit geringem Traktionsverlust in Vortrieb umzusetzen, arbeitet im neuen Continental GT wieder ein Allradantrieb. Doch jetzt als Hang-on System, das den Zweitürer unter normalen Fahrbedingungen nur über die Hinterachse antreibt und so von Verbrauchsvorteilen profitiert.

Erst wenn schlupfabhängig eine Kupplung im Verteilergetriebe schließt, fließt auch Drehmoment an die Vorderachse. Ein weiteres System zur fahrdynamischen Unterstützung ist das neue Bentley Dynamic Ride System (DRS) - eine von Porsche vorentwickelte Einheit, die auf Bentley-Bedürfnisse angepasst wurde. Es geht um ein Luftfedersystem mit variablen Dämpferraten und extrem kurzen Reaktionszeiten.

Die Besonderheit liegt im automatischen Wechsel zwischen verschiedenen Modi, angeregt durch fahrdynamische Größen, wie die Karosserie-Bewegung durch Beschleunigung, die Lenkbewegungen und die Querbeschleunigung. Durch schnelle Wechsel der Modi entschärft das System den traditionellen Konflikt zwischen komfortabler und sportlicher Abstimmung. Eng zusammen mit dem DRS arbeitet die elektronisch geregelte Wankstabilisierung.

Das innovative 48-Volt-System hält das neue Bentley Coupé in schnell durcheilten Kurven in der Balance, verhindert störende Rollbewegungen um die Längsachse. Zurück in der Boxengasse wollen wir wissen, was noch zu tun bleibe bis zur Serienreife. Woraus Frech und Paterson sich lachend anschauen. "Es gibt noch zahlreiche Feinabstimmungs-Themen", geben sie einmütig zu Protokoll. Etwa die marginalen Momenten-Sprünge bei 2.800 Touren und nahe 4.000 Touren unter Last. "Sie zu verschleifen, sind wir heute hier", sagt Paterson und lässt seinen Motorenexperten Computer anschließen.

Wir verlassen den abgelegenen Rundkurs in der Gewissheit, Zeitzeuge eines historischen Schritts der Marke Bentley zu sein. Eines Schritts zu faszinierender Fahrdynamik, die das Spektrum der über Jahrzehnte gepflegten Markenqualitäten mit neuen emotionalen Werten bereichert. Dass dabei der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen nicht vernachlässigt wird, ist zu erkennen. Er dürfte als kommender Entwicklungsschwerpunkt zum Kernthema der britischen Traditionsmarke werden, die künftig auch antriebstechnologische Trends im automobilen Luxus-Segment setzen möchte.

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