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Steer by wire schon bald Serie

Das Ende der Lenksäule

Nach 125 Jahren könnte nun tatsächlich das Ende der guten alten Lenksäule bevor stehen. Tatsächlich hatte bereits das erste Automobil eine an Bord. Doch moderne by wire-Systeme sind in Sachen Sicherheit mindestens ebenbürtig.

Natürlich scheitert es derzeit noch an den gesetzlichen Auflagen, die auf diesem Gebiet auch sehr streng sind. Denn auch wenn die Bordelektronik vollständig ausfällt, muss das Auto nach wie vor irgendwie manövrierbar bleiben. Und das geht mit einer rein mechanischen Verbindung natürlich immer, was eine Lenksäule ja im Endeffekt ist. Und dennoch: Ihre Tage scheinen gezählt zu sein. Denn bei Steer-by-wire entfällt die mechanische Verbindung zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe ersatzlos. Stattdessen überträgt ein Steuergerät die von einem Sensor am Lenkrad erkannten Lenkbewegungen über ein Kabel ("by wire") an einen Elektromotor am Lenkgetriebe, der dann die Lenkbefehle ausführt. Die bekannte Lenkrad-Rückmeldung, die bei klassischen Systemen über die Lenksäule zu spüren ist, erzeugt ein weiterer kleiner Elektromotor am Lenkrad.

Ein gewichtiges Pro-Argument für das Lenkrad am Draht ist der Wunsch nach noch mehr Platz und Bewegungsfreiheit für die Passagiere. Denn auch wenn die Lenksäule weitgehend unsichtbar ist, schränkt sie die konstruktiven Möglichkeiten doch erheblich ein. Entfällt sie, entsteht mehr Fuß- und Knieraum. Im Armaturenbrett wird Platz frei, um zum Beispiel großformatige Head-up-Displays zu installieren. Was künftig machbar wäre, zeigt das kalifornische Startup Canoo, das in seinem gleichnamigen Van dank Steer-by-wire ein bislang unerreichtes Raumgefühl realisiert.

Die Armaturentafel samt Lenkrad "schwebt" vor den Passagieren, der Beinraum reicht bis zur fast vollständig verglasten Fahrzeugfront. Bei der Ladepause könnten sich die Front-Passagiere dort tatsächlich wie in der First-Class ausstrecken. Und wenn irgendwann tatsächlich der Autopilot vollständig übernimmt, ermöglicht Steer-by-wire aufgrund der fehlenden Lenksäule ein Versenken des Lenkrades ins Cockpit.

Schon heute spricht die nochmals verbesserte Crash-Sicherheit für Steer-by-wire. Bei schweren Unfällen können sich moderne Sicherheitslenksäulen immer noch in den Innenraum verschieben oder in ihrem Winkel verändern, was das Verletzungsrisiko erhöht. Bei Steer-by-wire hingegen bleibt, weil keine mechanische Kraftübertragung erfolgen kann, das Lenkrad an seinem Platz, der Überlebensraum bleibt erhalten, der Airbag kann den Fahrer stets optimal auffangen.

Auch bei der Fahrerunterstützung ergeben sich zahlreiche neue Möglichkeiten. Während bei konventionellen Lenksystemen Lenkrad- und Radeinschlag zwangsläufig weitgehend korrespondieren – sogenannte Aktivlenkungen stellen schon heute in einem gewissen, engen Rahmen eine Ausnahme dar – ist das bei Steer-by-wire nicht der Fall. Bei starkem Untersteuern etwa neigen viele Fahrer unwillkürlich dazu, den Lenkeinschlag weiter zu erhöhen, weil ihr Fahrzeug ja nicht wie gewünscht in die Kurve fährt. Ein Steer-by-wire System könnte diesen Fahrfehler, der aus physikalischen Gründen genau das Gegenteil des gewünschten bewirkt, im Lenkrad unmerklich korrigieren. Auch Sicherheitsfeatures wie ESP oder die Seitenwindstabilisierung ließen sich noch wirksamer und effizienter gestalten. Der Wegfall der mechanischen Verbindung verhindert auch die Übertragung von Geräuschen, Stößen und Vibrationen, was den Komfort und die Konditionssicherheit erhöhen würde.

Führende Anbieter von Steer-by-wire-Systemen sind derzeit Schaeffler Paravan Technologie (SPT), Danfoss, ME Mobil Elektronik sowie die südkoreanische Mando Corporation. Das "Space Drive"-System von SPT ist jedoch derzeit das weltweit einzige mit einer Pkw-Straßenzulassung. Die Erprobung und Weiterentwicklung unter extremen Belastungen im Motorsport und sollen bei SPT nun im Renntempo in der hart umkämpften DTM neue Erkenntnisse und eine weitere Verfeinerung des Systems auf dem Weg zur Großserienreife ermöglichen. Ex-Formel 1-Pilot Timo Glock absolviert die ersten beiden Einsätze in seinem Rowe Racing BMW M6 GT3 mit Space Drive beim DTM Saisonauftakt am 19. und 20. Juni im italienischen Monza.

Damit Normalo-Autofahrer die Vorteile von Steer-by-wire-Systemen tatsächlich nutzen wollen, müssen Sicherheit und Zuverlässigkeit mindestens auf dem Niveau der konventionellen Lösung liegen. Space Drive ist deshalb dreifach redundant. Die voneinander unabhängigen Steuerkreise arbeiten parallel, überwachen sich gegenseitig und gewährleisten so maximalen Ausfallschutz. Den hat die Lösung bereits im realen Verkehr bewiesen: Über eine Milliarde unfallfreie Kilometer wurden mit Space Drive bislang zurückgelegt, 8.000 schwerstbehinderte Menschen, teils ohne Arme und Beine, steuern mit dem System schon heute ihr Auto.

Herstellern bieten Steer-by-wire-Systeme massive Kosten-, Logistik und Konstruktionsvorteile. In Kombination mit Brake-by-Wire (Bremsen per Kabel) etwa ließe sich fast bis zum letzten Augenblick entscheiden, ob ein Fahrzeug eine Rechts- oder Linkslenkerversion wird. Im kostenintensiven Rohbau müssen keine entsprechenden Karosserievarianten mehr produziert werden. Bei den derzeit sehr gefragten Hybridfahrzeugen, in deren Motorraum es besonders eng zugeht, könnte das System die Variantenvielfalt reduzieren.

Die Lenkung selbst kann, weil die Lenksäule wegfällt, immer hinter der Vorderachse positioniert werden, was Gewichtsverteilung und Fahrsicherheit verbessert. Der Einsatz von Steer-by-wire-Systemen in der Großserie scheint also nur noch eine Frage der Zeit. Der Gesetzgeber hat die Vorteile - anders als etwa bei den elektronischen Außenspiegeln, die zunächst nur per Ausnahmegenehmigung zulassungsfähig waren - frühzeitig realisiert. Seit Ende 2017 erlaubt die UN grundsätzlich den Einbau.

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