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Der Supersportler im Golfspelz

Wer fährt hier eigentlich mit wem? Der Fahrer mit dem Auto oder doch andersrum? Klingt als Frage vielleicht komisch, ist aber gerade unter Renn-Instruktoren öfter mal ein Thema, wenn sich mancher, meist frisch gebackener, Supersportler-Besitzer auf eine Rennstrecke traut, dort quasi „um sein Leben fährt“ und dann plötzlich von einem Golf überholt wird. Ja, das passiert öfter. Vor allem, wenn vom aktuellen Golf R die Rede ist, insbesondere vom „20 Years“.

Ein bekannter Reifenhersteller prägte einst, vor über 25 Jahren, den Spruch „Power is nothing without Control“. Nun sind auf dem Golf R 20 Years standardmäßig zwar Bridgestone Potenza Sport S005 in 235/35 R?19 oder auf Wunsch gleich Semislicks montiert, der Grundgedanke aber trifft ungeachtet der Batschen beim stärksten Golf aller Zeiten dennoch vollumfänglich zu. Ja, der Wolfsburger ist brutal stark – 333 PS auf dem Papier sind für einen Kompakten schon heftig, die Berichte darüber, dass die tatsächliche Leistung bei Prüfstandmessungen sogar noch höher ist, zahlreich – und sein Grip-Niveau dank schlauem Allrad und den erwähnten Reifen top. Doch seine tatsächliche Magie, wie wir beim Trackday auf dem Salzburgring herausfinden konnten, steckt in der Gesamtheit, mit der diese beiden Attribute zusammengebracht werden.

Ein Auto zum Wachsen


An dieser Stelle sei mir kurz erlaubt, persönlich zu werden. Also natürlich nicht euch gegenüber, liebe Leser. Ich möchte ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Denn in Hinblick auf die anfängliche Ausführung zu den Sportwagen, derer ihre Fahrer nicht mehr wirklich Herr sind, sprach ich auch aus eigener Erfahrung. Der Job des Auto-Schreibers bringt immerhin mit sich, dass ich schon so manch Runde auf einer Rennstrecke drehen konnte. Und das mit sehr unterschiedlichen Autos. Und dabei konnte ich noch selten zuvor so schnell so viel Vertrauen in ein Auto fassen wie in den Golf R 20 Years. Um es plakativ und klarer zu machen: Vielleicht nicht am Salzburgring mit seinen langen Geraden, aber auf technischeren Kursen wäre ich mit diesem Super-Golf bestimmt schneller als mit dem Lamborghini Avantador SVJ, der einst mit mir durch Estoril fuhr… und eben nicht andersrum.

Die Ingenieure der R GmbH haben es hier schlicht geschafft, das in neue Sphären zu führen, was die Top-Gölfe immer schon so gut gemacht hat: einen Alleskönner ohne Tücken zu sein. Klar: Trotz aller modernen Technik muss man im Drift-Modus immer noch wissen, wie man in einem Allradler ohne Kaltverformung quer fährt. Und auch auf der Rennstrecke liegt es ganz an einem selbst den Kompaktwagen auf der Ideallinie entlangzuführen. Doch das Zusammenspiel aus Lenkung, Bremsen, Fahrwerk, Getriebe und Motor bietet hier einfach jederzeit mehr als genug Spielraum, um sich ohne vom Auto ausgehender Gefahr immer näher an die tatsächlichen Grenzen des Kfz heran zu arbeiten. Sowohl in der Nocksteinkehre als auch der Fahrerlagerkurve lässt sich also herrlich nach und nach herausfinden, wie gut es der Torque-Vectoring-Allradantrieb versteht unter leichter Last deutlich höhere Kurven- und vor allem Ausgangsspeeds zu erreichen, als wenn man sich übermotiviert schnell in die Kehren stürzt und dann aus Gründen der Selbsterhaltung mit bremsender Motorbremswirkung versucht hindurchzukommen. Der Golf wird also zum Lehrer, der Fahrer nach und nach zum besseren Piloten.

Ohne das hardware-seitig nötige Rüstzeug wäre das aber freilich nicht möglich. Und da hat man beim R tatsächlich keine halben Sachen gemacht. Das Torque-Vectoring haben wir schon erwähnt, dazu standfeste Bremsen, gefühlvolle Lenkung, adaptive Dämpfer und natürlich der noch einmal erstarkte EA888-Evo4-Zweiliter-Vierzylinder-Turbo. Wobei die 12 PS extra ehrlichgesagt kaum für ein neues „Aha-Erlebnis“ sorgen, wenn man den normalen R Performance schon kennt. Ist aber wirklich vollkommen wurscht. Hallo?! Das ist ein familientauglicher Kompaktwagen, der in meist noch weniger als der vom Hersteller angegebenen Zeit von 4,6 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 stürmt. Das ist Supersportler-Terrain.

Deutlich auffälliger sind andere Änderungen. Etwa das Anti-Lag-System, dank dem der Turbo auch im Teillast- und Schubbetrieb stets am Drehen gehalten wird. Oder natürlich der neue, im Detail auf die Nordschleife abgestimmte Modus „Special“, der aber defacto für die meisten Rennstrecken der Welt der neue Modus der Wahl ist. In diesem wird das Fahrwerks-Setup etwas weicher als im gewöhnlichen Track-Mode, gleichzeitig schupft der Allrad auf der Hinterachse je nach Bedarf etwas mehr Power aufs kurvenäußere Rad. Das Ergebnis ist ein erstaunlich gierig einlenkender, sympathisch mit dem Heck mitlenkender und einfach richtig schneller Golf, der bestimmt oft im Rückspiegel so manches M-, AMG-, RS- oder Porsche-Fahrers bei Trackdays auftauchen und für hochgezogene Augenbrauen sorgen wird.

Alles hat seinen Preis …


Fassen wir also zusammen: Der Golf R 20 Years ist eine ernstzunehmende Rennstrecken-Waffe, ohne dabei irgendetwas von seiner Alltagstauglichkeit als Golf eingebüßt zu haben. Der Haken? Eigentlich sind's gleich zwei. Zum einen ist die Sonderserie aktuell nicht mehr neu bestellbar und andererseits ist und war sein Preis recht hoch. Der günstigste (Feinheiten wie die Akrapovic-Titan-Abgasanlage oder die adaptiven Dämpfer sind kostenpflichtige Extras) verfügbare Neuwagen in Österreich wechselt zum Zeitpunkt dieses Artikels um exakt 74.862,15 Euro den Besitzer. Bei allen anderen steht eine „8“ an erster Stelle. Viel Geld für einen Golf. Zumal ein zumeist kaum langsamerer Golf R Performance bei 63.790 startet. Andererseits dürfte die Restwertentwicklung bei einem Sondermodell freilich etwas anders verlaufen als bei der Großserie. Und übrigens ist die Welt Konzern-intern freilich auch noch in Ordnung. Denn der schnellste Allrad-Hothatch auf der Nordschleife kommt nach wie vor aus Ingolstadt, heißt Audi RS3 und kostet noch einmal empfindlich mehr.

Die gute Nachricht aber ist: VW veranstaltet jährlich im Rahmen des VW Experience Programms Trackdays, bei denen man eben das nacherleben kann, was ich hier beschrieben habe: Also ein R-Modell beherzt über eine Rennstrecke prügeln. Und in eben jenem Rahmen fand auch meine Zeit mit dem Auto statt; also unter professioneller Anleitung und mit tip-top hergerichteten Autos. Wer sich also nicht gleich selbst so ein Geschoss anlachen möchte, dem sei die entsprechende Newsletter-Anmeldung dringend ans Herz gelegt …

FAZIT


Es ist eigentlich verrückt, was zum „Quasi-Ende“ der benzin-angetriebenen Hot-Hatches aus ihnen geworden ist. Egal ob sie nun aus Japan, Frankreich oder Deutschland kommen: Ihre jeweils schärfsten Ausbaustufen sind allesamt in Leistungsbereiche vorgedrungen, die einst exotischen Hypercars vorbehalten waren. Und eines der bemerkenswertesten Beispiele ist hier wohl der Golf R 20 Years. Das aber eben nicht wegen der beeindruckenden Rennstrecken-Kompetenz, sondern vor allem der Nonchalance, mit der dieser Golf Zeiten in den Asphalt brennen kann, die NOCH teurere Supersportler ins Schwitzen bringen. Und dann schaltet man im Bordcomputer einfach in den Komfort-Fahrmodus und fährt heim, als säße man in Mamas Golf Rabbit … mit geilen Felgen. Fein.

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