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"Freak Accident" Niemand wurden nach dem schweren Unfall jemals angeklagt - es war ein "Freak Accident"
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VLN-Unfall Nordschleife 2015: Wer hatte Schuld?

Nach wochenlangen Ermittlungen wurde niemand nach dem schweren Nürburgring-Unfall 2015 angeklagt - Eine Verkettung unglücklicher Faktoren führte zur Tragödie

Es ist das übliche Vorgehen nach einem "Unfall mit Personenschaden" - eine Formulierung, die im bürokratischen Deutsch fast euphemistisch klingt. Die Staatsanwaltschaft Koblenz nahm sofort Ermittlungen auf, beschlagnahmte das Wrack des Nissan GT-R Nismo GT3 und ging der zentralen Frage nach: Wer trug die Schuld an dem Unfall, bei dem ein Zuschauer ums Leben kam?

Wie üblich zogen diese sich wochenlang hin. Das Wrack wurde bei KFZ Bongard in Adenau einbruchs- und diebstahlsicher eingelagert, bis ein von der Staatsanwaltschaft beauftragter Kfz-Sachverständiger die Untersuchungen aufnahm.

Das stellte sich als schwierig heraus, denn Kfz-Sachverständige befassen sich in der Regel mit Unfällen im Straßenverkehr. "Der hat wahrscheinlich zum ersten Mal ein Rennauto begutachtet", erklärt der damalige VLN-Chef Karl Mauer im Gespräch mit Motorsport-Total.com. Doch auf dem Papier hatte eben nur er die nötige Qualifikation, um offizielle Aussagen machen zu können.

Um ihm zu helfen, setzte Mauer durch, dass zwei VLN-Techniker bei den Untersuchungen anwesend sein durften. "Sie durften das Auto nicht berühren, aber zusehen und Hinweise geben, unter anderem bei der Black Box des Fahrzeugs." Auch die VLN und der Nürburgring hatten großes Interesse an der Auswertung der Daten, schließlich stand die Zukunft der GT3-Klasse auf der Nordschleife auf dem Spiel.

Mauer, der in der Eifel wohnt, übernahm die direkte Kommunikation mit dem Staatsanwalt und einem Polizeibeamten der Kriminalpolizei Mayen. Alle taten ihre Pflicht - doch manche Fragen wirkten aus Motorsport-Sicht befremdlich.

"Eine Frage, die mich amüsiert hat, war, ob die Teilnehmer bei der Fahrerbesprechung auf die besondere Gefährlichkeit dieses Streckenabschnitts hingewiesen werden", erinnert sich Mauer. Natürlich musste er erklären, dass er dann für jeden einzelnen Abschnitt der Nordschleife eine Warnung hätte aussprechen müssen.

Letztlich konnte kein Schuldiger ausgemacht werden, es kam nicht einmal zu einer Anklage. Es war, wie so häufig im Motorsport des 21. Jahrhunderts, schlicht ein "Freak Accident". Was natürlich nicht bedeutete, dass man nichts daraus lernen konnte.

Diese Faktoren führten zur Katastrophe

Die Ermittlungen entlasteten auch Jann Mardenborough. Die Medien hatten längst seine Vergangenheit als Sim-Racer recherchiert - eine damals noch wenig akzeptierte Einstiegsmöglichkeit in den professionellen Motorsport. Schlagzeilen wie "Todesfahrer kam durch Playstation-Sieg ans Steuer" setzten dem damals 23-Jährigen, vom Unfall bereits traumatisiert, weiter zu.

Doch was genau war passiert? Die Black-Box-Daten und zwei YouTube-Videos von Zuschauern lieferten entscheidende Erkenntnisse. Erinnerungen an den Unfall von Manfred Winkelhock beim Formel-2-Rennen 1980 an derselben Stelle wurden wach. Doch es gab einen wichtigen Unterschied.

"Winkelhock hat damals erst auf der Kuppe Unterluft bekommen. In diesem Fall aber begann der Nissan bereits vor der Kuppe abzuheben", sagt Mauer.

Die Datenanalyse zeigte: In den vorherigen Runden hatte Mardenborough, wie viele Fahrer, vor der Kuppe kurz mit dem linken Fuß auf das Bremspedal getippt. Dadurch verlagerte er das Gewicht nach vorn - eine gängige Technik, die auch im Rallyesport vor Sprungkuppen angewendet wird, um möglichst wenig Zeit in der Luft zu verbringen, wo es keinen Vortrieb gibt.

Das entlastete Mardenborough sofort von Stimmen, die behaupteten, als Simracer seien ihm die physikalischen Gesetzmäßigkeiten des realen Autofahrens nicht bekannt. Er brachte die Front bewusst runter, allerdings jede Runde ein bisschen weniger. "Er tat, was ein Rennfahrer tut. Er tastete sich langsam ans Limit heran", sagt Mauer, der selbst Rennen gefahren ist.

Doch in jeder Runde reduzierte er diesen Impuls minimal. In seiner siebten Runde versuchte er schließlich, die Kuppe voll zu nehmen. Alle ungünstigen Faktoren kamen nun zusammen:
- Es war die letzte Runde vor dem Boxenstopp, das Auto also leicht.
- Der Nissan war aerodynamisch noch nicht so ausgereift wie andere GT3-Fahrzeuge und neigte zu einer leichten Frontpartie.
- Der glatte Unterboden bot eine große Angriffsfläche für den Luftstrom.
- Es gibt unbestätigte Berichte über eine Windböe, die das Auto im falschen Moment erfasste.

Das Ergebnis: Der Nissan bekam bereits vor der Kuppe Unterluft. Der Streckenverlauf tat dann sein Übriges, immer mehr Luft hebelte die Front des Nissan GT-R Nismo GT3 in die Höhe.

Es gibt auch einen indirekten Faktor: den schmalen Grat zwischen Action und Katastrophe. Beim 24-Stunden-Rennen hatten TV-Kameras die Sprungkuppe gezielt für spektakuläre Bilder eingefangen. Und Motorsportler sind Wettbewerbstypen - es wäre nicht überraschend, wenn es eine inoffizielle Meisterschaft gab, wer am längsten auf zwei Rädern fuhr. Doch genau das unterscheidet die Nordschleife eben von anderen Strecken.

Der tödliche Moment

All das führte zu einem schweren Unfall - aber noch nicht zum Tod eines Zuschauers. Der Grund dafür lag erst etwa 150 Meter weiter.

Der Nissan bewegte sich nach dem Abheben senkrecht mit über 200 km/h auf eine Reifenkette zu. Diese begann damals erst deutlich später als heute - in der Konsequenz aus dem Unfall wurde sie später bis zur Kuppe verlängert - und war nicht darauf ausgelegt, dass ein Auto senkrecht einschlägt.

Das Heck traf den Reifenstapel und gab dem Fahrzeug einen Drehimpuls. Mauer erläutert: "Der Reifen hatte einen Rückfedereffekt, der dem Auto das Drehmoment verlieh. Es schlug mit dem Bug in die Böschung ein und setzte dadurch die Vorwärtssalto-Bewegung über den FIA-Zaun fort."

Der Nissan berührte lediglich die oberen Tragseile des Zauns - doch das reichte, um die Flugbahn zu verändern. "Er ist dann mehr oder weniger parallel zur Rennstrecke weitergerollt, in den Zuschauerbereich."

Damals war dieser Bereich noch für Zuschauer zugänglich. Hier befand sich auch das Todesopfer mit seiner Lebensgefährtin. Beide saßen auf Stühlen. Und genau an dieser Stelle kommt das letzte Puzzleteil der Tragödie ins Spiel.

Während seine Partnerin auf ihrem Stuhl erstarrte, sprang er aus Reflex auf. Genau das wurde ihm zum Verhängnis - er wurde frontal vom Fahrzeug erfasst. Seine Partnerin blieb unverletzt. Der Nissan flog in geringer Höhe über sie hinweg. Wie durch ein Wunder wurden nur drei weitere Zuschauer leicht verletzt.

Dass nicht mehr passierte, etwa ein Feuer wie bei der Le-Mans-Tragödie 1955, war den Sicherheitssystemen des Fahrzeugs zu verdanken. Diese erlaubten es auch Mardenborough, dem Wrack unverletzt zu entkommen. Doch der Brite stand unter Schock und wurde zur Routineuntersuchung ins Krankenhaus gebracht.

Zahlreiche Zuschauer, die das Geschehen miterlebten, waren traumatisiert. Die VLN organisierte eine Woche später am Ostersamstag eine Gesprächsrunde mit anschließendem Essen, um ihnen die Rückkehr zur Normalität zu erleichtern.

Die damalige Lebensgefährtin des Opfers ist der Nürburgring-Nordschleife bis heute verbunden und besucht weiterhin Rennen. Sie gibt Mardenborough keine Schuld.

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Motorsport-Total.com

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