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Rallye-WM: Hintergrund

Harte Prüfung für die Sicherheitseinrichtungen

Michael Noir Trawniczek
Fotos/Grafik: Ford

Co-Pilot Miikka Anttila und Pilot Jari Matti Latvala

450.000 Menschen haben das Video auf Youtube betrachtet – der Ford Focus rollt seitlich den Hang hinab, überschlägt sich mehrmals 200 Meter hinab, erst ein Baum stoppt das Fahrzeug. Der spektakuläre Unfall von Jari Matti Latvala und Miikka Anttila am ersten Tag der vor rund einem Monat abgehaltenen Portugal-Rallye zählt bereits zu den wildesten Unfällen in der Geschichte der Rallye-Weltmeisterschaft.

Dabei war der Crash aus einem gewissen Aspekt betrachtet vergleichsweise harmlos. Manfred Stohl hat dazu in einem motorline.cc-Interview erklärt: „So lange sich das Auto bewegt, so lange die Energie schrittweise absorbiert wird, ist es wesentlich weniger gefährlich für die Besatzung, als wenn du binnen einer Sekunde auf null verzögerst.“ Der im Vergleich zu Latvala harmlos aussehende Unfall von Francois Duval im Vorjahr, bei der Japan-Rallye hat dies bewiesen: Duval rammte mit der Beifahrerseite einen Begrenzungsstein und verzögerte unverzüglich. Co-Pilot Patrick Pivato erlitt schwere Verletzungen, befand sich sogar, wegen innerer Verletzungen, in Lebensgefahr und zog sich mehrere Becken- und Schienbeinbrüche zu.

Lang und schmerzlos statt kurz und schmerzhaft

Im Falle von Latvala und Anttila wurde die Energie langsam aber stetig absorbiert. Auch wenn es für die Besatzung ein Horrorerlebnis war, wie Latvala berichtete: „Ich dachte, es hört gar nicht mehr auf. Ich dachte, wir werden das nicht überleben.“ Doch als der Wagen von einem Baum gestoppt wurde, entstiegen Fahrer und Beifahrer unverletzt dem völlig zerstörten Fahrzeug. Wobei der Ausdruck „völlig zerstört“ eben falsch ist: Denn die wesentlichen Überlebensstrukturen blieben intakt. Ford hat den Focus untersucht und nun einen Bericht herausgegeben.

Diesen hat Tim Jackson, der Ingenieur von Latvala verfasst – er schreibt: „So erschreckend der Unfall auf den Videoaufzeichnungen auch erscheint - die Sicherheitsstruktur des Fahrzeugs hat exzellent und präzise funktioniert. Sie entsprach ihrem Zweck, die Fahrer zu schützen.

Biegsamer Stahl

Die Verwendung von relativ biegsamen Materialen wie T45-Stahl für den Überrollkäfig hat eine stetige – aber limitierte – Deformation der Überrollstruktur erwirkt. So wurde nicht nur ausreichend Energie absorbiert, um die Besatzung zu schützen – die vielen unbeschädigten Teile der Rohkarosserie können auch wieder aufgebaut und verwendet werden. Die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen – aufgrund der Regeln und auch dank des Designs – waren dienlich, sodass Fahrer und Beifahrer in der Lage waren, unverletzt aus dem Auto zu steigen.

Der Unfall ereignete sich 9,1 Kilometer nach dem Start der vierten Prüfung – Latvala leitete auf einem Hügel den Bremsvorgang ein, die darauf folgende Linkskurve war noch nicht ersichtlich. Jackson schreibt: „Nach dem Hügel wurde das Auto ‚leicht’, weshalb sowohl der Brems- als auch der Lenkvorgang weniger effektiv waren, weil auf den Reifen weniger Gewicht lastete.“

Zuerst schlug der Ford Focus mit dem Heck, dann mit der Front gegen die Böschung im Kurveninneren, in der Folge hob der Wagen ab, er flog über eine Barriere hinweg und rollte den Hang hinab. Motorhaube und Heckklappe wurden dabei abgetrennt – die Fahrertüre öffnete sich und wurde während der Überschläge mehr oder weniger zerkleinert.

Jackson schreibt in seinem Bericht: „Allerdings blieben Angel und Türschloss in gutem Zustand. Beides entspricht den Vorschriften im Produktionswagenbau und ist auch entsprechend im Reglement verankert.“

Der hinabrollende Wagen wurde von einem Baum gestoppt – ohne diesen Baum wäre der Wagen wahrscheinlich weitere 50 Meter hinab gerollt, heißt es in dem Bericht. Der Unfall dauerte 19,8 Sekunden – in dieser Zeit vollzog das Auto zwölf Überschläge. In dem Bericht heißt es, dass trotz der großen Gewalt der Bereich des Cockpits „exzellent erhalten“ blieb.

Latvala in Portugal, vor dem Crash...

Jackson schreibt: „Vermessungen haben gezeigt, dass es im Bereich des Cockpits keine Deformationen gab. Der A-Pfosten und der seitliche Aufprallschutz blieben praktisch unbeschädigt, auf beiden Seiten des Autos – es gab nur geringfügige Deformationen. Der ‚Main Hoop Tube’, der sich nahe dem B-Pfosten befindet, hat sich leicht in Richtung des Fahrers verbogen, während sich die Struktur um den C-Pfosten so verbogen hatte, dass sie einen flacheren Winkel aufwies. Doch keine dieser Deformationen war so stark, dass sie eine Gefahr für die Besatzung dargestellt hätte.“

Aschacher: „Abknickzonen sind wichtig“

Stohl Racing-Teamchef und Technikdirektor Günther Aschacher sagt dazu: „Es ist wichtig, dass man keine völlig starre Struktur aufbaut. Auch wir verschweißen nicht alles, sondern lassen ganz bewusst Zonen, die im Falle eines Unfalls abknicken können. Beispielsweise bei den Holmen im Vorbau rund um den Motor. Das Reglement schreibt hier keine konkreten Abknickzonen fest, diese können individuell gestaltet werden.“

Aschacher fügt hinzu: „Ganz wichtig für die Sicherheit der Piloten sind auch die Sitzschalen.“ Im Falle von Latvala und Anttila wurden die im Oktober 2008 präsentierten FIA Sicherheitssitze verwendet, die von M Sport mit Befestigungsklammern aus Aluminium eingesetzt werden. Jackson schreibt in seinem Bericht: „Sitze und Klammern waren auch nach dem Unfall wie neu.“

Erwähnt werden in dem Bericht neben dem Überrollkäfig und den Sicherheitssitzen auch überlebenswichtige Elemente wie den eingebauten Feuerlöschern, ein bruchsicherer Benzintank und die ausgeschäumten Seitenaufprallschutzvorrichtungen. Hinzu kommt das GPS, mit dem man das verunfallte Auto auf den Punkt genau ausmachen kann. Das Hals- und Nackenschutzsystem HANS verhindert zudem Peitschenschlagverletzungen bis hin zum Genickbruch.

Erhöhter Seitenaufprallschutz

Ford-Technikdirektor Christian Loriaux erklärt dazu: „Wir haben uns beim Design des aktuellen Focus ganz besonders auf erhöhten Seitenaufprallschutz konzentriert. Wir haben die Sitze näher in die Mitte des Fahrzeugs gerückt, weg von den Türen – dort haben wir zusätzliche Holme installiert. Es besteht kein Zweifel, dass diese Maßnahmen die Sicherheit stark verbessert haben.

Ford Europa Motorsportdirektor Mark Dean ist es ein Anliegen zu betonen, dass die in der WM eingesetzten Sicherheitsvorkehrungen und die damit verbundenen Erfahrungen auch in den Straßenautos umgesetzt werden: „Das Focus RS World Rally Car ist ein unglaublich starkes und robustes Fahrzeug und diese Eigenschaft wirkt sich auf die gesamte Focus-Familie aus. Im Motorsport geht man immer ans Limit und die Rallye-Weltmeisterschaft ist die optimale Prüfung für Sicherheitstechnologie. Was wir hier lernen ist wesentlich, wenn wir die nächste Generation unserer Straßenfahrzeuge entwickeln.“

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