
Audi-Prototyp mit Neigetechnik | 27.04.2011
Kurvenstar
Das Problem, dass Autoinsassen auf längeren Strecken übel wird, kennen viele seit Kindertagen. Damit kann bald Schluss sein.
mid/stg
Audi arbeitet zusammen mit Doktorrand Michael Bär von der Universität Aachen an einer Lösung des Problems.
Der Selbstversuch mit verbundenen Augen auf dem Beifahrersitz ist eindrucksvoll. Auf dem kurvenreichen Autobahn-A9-Teilstück südlich der Anschlussstelle Greding in Fahrtrichtung München scheint es so, als seien die Kurven über Nacht aus der Landschaft herausgebügelt worden.
Der A5-Prototyp, den Michael Bär mit Tempo 120 steuert, kann sich in die Kurve legen wie ein Motorradfahrer oder ein Wasserskifahrer. Der Beifahrer mit verbundenen Augen hat in jeder Hand einen Druckknopf.
Wenn er meint, dass eine Kurve beginnt, soll dieser den Knopf so lange drücken, bis es wieder geradeaus geht. Nach ein paar Kilometern gibt die Bordelektronik im Kofferraum ein verblüffendes Bild.
Der Copilot hat kaum die Taster betätigt, weil er kaum Kurven gespürt hat. Michael Bär ist sichtlich zufrieden. Er hat innerhalb des letzten Jahres mehr als 20.000 Kilometer in dem Prototypen zurückgelegt.
Die Ergebnisse ähneln sich. Kurven bis 130 km/h kann der Audi A5 komplett wegbügeln.
Zusammen mit Audi hat der Mann von der technischen Hochschule im deutschen Aachen ein Fahrwerkskonzept entwickelt, das der Fliehkraft per Neigetechnik seinen Schrecken nimmt.
Nach dem ersten Probelauf auf der A9 gibt es eine zweite und eine dritte Schleife. Mal mit Augenbinde, mal ohne. Wie ein Motorrad legt sich der mit Neigetechnik ausgestattete A5 in die Rechtskurve.
Optisch erinnert die Fahrt an einen Skifahrer, der mit stark taillierten Carving-Ski die Piste herunterfährt, indem er sich gekonnt in die Kurve legt und sein Körpergewicht die ganze Arbeit machen lässt.
Möglich macht die ungewöhnliche Neigetechnik ein elektronisches Fahrwerk mit entsprechendem Dämpferraum nach oben und unten. "Wir haben an der Radaufnahme an den Aktoren einen Hubweg von fünf Zentimetern nach oben und unten", erklärt Michael Bär.
Am äußeren Rad stehen somit bis zu sieben Zentimeter plus oder minus zur Verfügung, mit denen der A5 in der Kurve angehoben oder abgesenkt werden kann. In einer starken Rechtskurve federt das Prototypenmodell am rechten Vorderrad maximal ein, während der Dämpfer am linken Hinterrad maximal ausfährt.
Für die Insassen fühlt sich die Kurve fast wie das Befahren einer Geraden an. Aus der Sicht bei direkter Hinterherfahrt sieht der A5 aus, als hätte er einen kapitalen Dämpferschaden. Doch dies ist aber technisch notwendig, um die Kurve für die Insassen zu überspielen.
Entstanden ist das ungewöhnliche Projekt im Rahmen der Entwicklungen zum autonomen Fahren. Längst ist abzusehen, dass Autos übermorgen komplett eigenständig und ohne Zutun des Fahrers fahren und unfallfrei den Weg von der Arbeit zurück nach Hause finden.
Der Fahrer kann während solcher Fahrten Zeitung lesen, am Computer arbeiten oder sich schlichtweg unterhalten. Die Ablenkung vom Straßenverkehr sorgt bei vielen Autoinsassen jedoch für Übelkeit.
Michael Bär weiß den Grund: "Dummerweise macht das Gleichgewichtsorgan vielen Menschen einen Strich durch die Rechnung. Wenn das Gesehene vom Gefühlten abweicht, reagieren sie mit Übelkeit bis zum Erbrechen."
Das ist mit der Neigetechnik weitgehend vergessen. Beim "querkraftfreien Fahren" macht das Fahrwerk deutlich mehr als elektronische Dämpferregelungen und Wankstabilisierungen.
Denn das System beginnt zu arbeiten, bevor die Kurve selbst begonnen hat. Die Computer im Kofferraum, die dem Audi A5 die Neigetechnik möglich machen, werden nicht nur über den Fahrer, sondern auch über eine Kamera im Innenspiegel mit Informationen gefüttert.
"Erkennt das Kamerasystem, dass eine Kurve kommt, beginnt es bereits zu arbeiten und legt den Wagen sanft in die Kurve", so Michael Bär, "zudem gleicht es die Informationen mit GPS-Daten und dem Navigationssystem ab."
Ist die Autobahnkurve maximal geschnitten, kann das Erprobungsmodell das subjektive Fahrgefühl durch seine Neigetechnik bis Tempo 130 komplett ausgleichen.
Sind die Kurven nicht allzu eng, klappt es sogar bis 180 km/h. Für schnelle Wechselkurven auf Landstraßen ist die Neigetechnik nicht gedacht. Hier soll der Fahrer aktiv ins Geschehen eingreifen und den Fahrspaß genießen.
Eine Serienumsetzung ist noch in weiter Ferne. Bisher handelt es sich allein um eine Doktorarbeit, die Michael Bär erstellt. Sollte das System in Serie gehen, dürfte mindestens eine Fahrzeuggeneration mit mehr als sechs Jahren ins Land gehen.
Gerade mit Blick auf die mächtigen Limousinenmärkte in Asien und den USA dürfte sich das Neigefahrwerk als Option für Luxuslimousinen anbieten.