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China greift nach der Premium-Krone
NIO

Tesla, Porsche & Co im Visier

Ihren Vorsprung bei der Elektro-Mobilität spielen chinesische Autohersteller längst mit einer Europa-Offensive bei Klein- und Mittelklasse-Fahrzeugen aus. Nun greift mit Nio erstmals ein Unternehmen in der Oberklasse an - mit einem revolutionären Batteriewechsel-System. Aber auch andere "Spieler", wie BYD oder Lynk & Co. könnten nicht, sondern werden die etablierte Hersteller-Riege mächtig unter Druck setzen. Und zwar auch dort, wo Marge zu machen ist.

Hubert Kemper & Johannes Posch

Für ihre Lernfähigkeit sind Chinesen ebenso bekannt und gefürchtet wie für ihre Kopierfreudigkeit. Vor 15 Jahren lächelten die heimischen Hersteller über Automarken wie Brilliance oder Landwind. Deren Hoffnungen auf einen erfolgreichen Einstieg in den europäischen Automarkt zerschellten an den Crashtests für die Euro-NCAP-Wertung. Inzwischen meistern Hersteller wie Nio, BYD oder Lynck & Co. nicht nur die Hürden für die Höchstwertung von fünf Sternen. Mit ihrer für Herbst dieses Jahres geplanten Offensive lehren sie auch der etablierten Konkurrenz das Fürchten.

Auf dem Weg vom Lehrling zum Meister profitieren die Chinesen von ihrem langen Atem, ebenso vom Know-how europäischer Partner und ihrer von Staat und Städten geförderten Kapitalkraft. So ist der schwedische Hersteller Volvo seit 2010 im Besitz der Geely-Group. 2004 kaufte der größte chinesische Autokonzern SAIC, an dem auch Volkswagen beteiligt ist, die Baurechte an den Modellen Rover 25 und 75. Auf dem Heimatmarkt ist Rover seit 2007 unter dem Namen Roewe präsent. International gehen sie unter MG Roewe auf Kundenfang und das nahezu unbemerkt erfolgreich.

Mit einem Marktanteil von 0,3 Prozent liegt MG in den ersten sieben Monaten 2022 besser im Rennen als etablierte Marken wie Subaru, Lexus, Alfa und Honda. 150.000 Fahrzeuge made in China können nach Einschätzung von Branchen-Experten in diesem Jahr europaweit abgesetzt werden.

Über welches Potenzial die ehrgeizigen Asiaten verfügen, zeigt BYD ("Build your Dreams"): Rund 640.000 E-Autos und Plug-in-Hybride hat der größte Elektro-Autobauer der Welt, der als Technologieführer bei Batterien gilt und auch mit Daimler kooperiert, im ersten Halbjahr verkauft. Das Erfolgsmodell Seal, ein Elektroauto im Stil des Tesla Model 3, soll nun auch in Europa angeboten werden. Die Reichweite von 500 Kilometern ist ein Lockmittel. Ein weiteres der Preis. Als Beispiel für die Herausforderung an die Konkurrenz dient der MG ZS EV. So kostet der Elektro-SUV rund 34.000 Euro und damit weniger als der Kleinwagen Renault Zoe.

Bei ihrem Vormarsch in Europa stoßen die Chinesen in das Vakuum, das deutsche Hersteller wie Volkswagen, Audi, BMW und Mercedes bei ihrem Rückzug aus dem Rendite-schwachen Kleinwagen-Geschäft hinterlassen. So besetzt SAIC die Lücke mit dem Hongguang Mini EV. Der kastenförmige China-Stromer der Marke Wuling, einem Joint Venture von General Motors und SAIC, hat sich in seinem Heimatland 2021 zum bestverkauften Elektrofahrzeug gemausert. Kein Wunder bei Preisen von rund 4.000 Euro. Ein Importeur aus Litauen steht für die Einführung in Europa bereit. Hier soll der Mini rund 10.000 Euro kosten.

Startbereit ist auch die Volvo-Schwester Lynck & Co., die bereits in der Statistik des Kraftfahrtbundesamtes vertreten ist. Über die Schweizer Emil-Frey-Gruppe will der Hersteller Great Wall die Modelle Ora und Wey vertreiben. Und Aiways aus Shanghai bedient sich beim Absatz des Crossover namens US der Marktmacht der Elektronikkette Euronics.

Die spektakulärste Premiere plant im Herbst die Marke Nio. Das 2014 gegründete Start-Up aus Shanghai versteht sich als Tesla-Rivale. Zum Repertoire der Attacke auf den Platzhirschen gehören "Super Charger", also Schnelllade-Stationen, nobles Ambiente in den Nio-Houses oder wie in China praktiziert, üppiger Service mit Abholen und Rücktransport der Autos zum Service. Doch Nio will vor allem das Thema Reichweite und Ladestopps revolutionieren. So soll die Batterie innerhalb von fünf Minuten vollautomatisch in "Power-Swap"-Stationen gewechselt werden. Bis 2025 sind in Europa 1000 Stationen geplant.

In Norwegen, Europas Vorreiter in Sachen E-Mobilität, testet Nio bereits den ES 8 (siehe unten), einen fünf Meter langen SUV-Siebensitzer. Wie der Q7 von Audi soll er mit einem 100-kW-Akku 500 Kilometer Reichweite erzielen. Doch mit dem ET 7, ihrer Luxus-Limo (siehe ganz oben), mit der die Marke starten wird, will Nio echte neue Maßstäbe setzen. Energiebasis ist ein Feststoffzell-Akku (150 Kw/h), der bis 1.000 Kilometer Reichweite ermöglichen soll, dazu bei einer Systemleistung von 648 PS Rennwagen-ähnliche Fahrleistungen. Nio steigt also vom Start weg in das Premiumsegment ein, greift mit dem fünf Meter langen High-Tech-Palast die Platzhirsche Tesla Model S, Mercedes EQS und Porsche Taycan an und kann sie, zumindest auf dem Papier, auch in quasi jeder Hinsicht alle locker übertrumpfen. Übrigens auch in Sachen automatisiertes Fahren, das mit Hilfe von Hochleistungsrechnern, hochauflösenden Kameras, Lidar- und Radarsystemen in einer Qualität ermöglicht werden soll, wie man es von westlichen Fahrzeugen noch lange nicht kennt. Inwiefern dieses Versprechen gehalten werden kann, können wir bereits diese Woche beim Europa-Start-Event in Berlin herausfinden. Dort dürfen wir einen ganzen Tag lang nach Belieben dem ET 7 auf den Zahn fühlen. Wir werden berichten.

Natürlich ist der Weg aber noch steinig und weit: Nio hat im vergangenen Jahr 90.000 Autos in China verkauft, Tesla zum Vergleich 240.000. Halbe Sachen macht man aber keine: In der Europa-Zentrale München sind aktuell 500 Designer und Ingenieure mit der Markenentwicklung beschäftigt. Deutschland-Geschäftsführer Ralph Kranz bringt seine Erfahrung als Manager bei Volvo, Aston Martin und Toyota mit. Und auch von Nio-Gründer William Li ist die Schlagrichtung klar: globale Ausrichtung der Marke. Das Ergebnis: Im September 2022 konnte man insgesamt 10.878 Neufahrzeuge ausliefern. Somit wurde im dritten Quartal 2022 mit insgesamt 31.607 Neufahrzeugen ein neuer Quartalshöchststand erreicht, was einem Anstieg von 29,3 % zum Vorjahr entspricht. In den ersten neun Monaten des Jahres 2022 lieferte NIO 82.424 Neufahrzeuge aus, 24,2 % mehr als im Vorjahreszeitraum. Insgesamt hat NIO bislang 249.504 Neufahrzeuge ausgeliefert.

Die Erfolgschancen der Offensive bewertet Professor Stefan Bratzel, Chef des Center of Automotive-Management in Bergisch Gladbach, positiv. "Mit dem Batterie-Wechselsystem haben die Chinesen ein Alleinstellungsmerkmal", sagt er. Ein anderer sei der Preisvorteil.

Abwerben von Spezialisten europäischer Firmen, Preis-Dumping und Aufgabe des Stückzahl-trächtigen Kleinwagenmarktes: Droht der deutschen Industrie ein Wegbrechen eines wichtigen Standbeines? Bratzel redet die Gefahr nicht klein. "China ist der Leitmarkt für Elektromobilität, und da haben Hersteller wie BYD, vielleicht auch Nio ein paar Jahre Vorsprung". Als Manko sieht der Auto-Fachmann das Image, das den Chinesen aus der Crashtest-Pleite bei ihrem ersten Vorstoß nachhängt. Hinzu kommt der Anspruch deutscher Käufer. Ob die bereit sind, für ein Oberklasse-Auto made in China 60.000 Euro und mehr auszugeben? - Doch der Abstand zum Model S ist riesig. Der Luxus-Tesla kostet ab 137.990 Euro.

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