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Die größte Reform der Formel 1 ist gescheitert!

Ende 2002 wollte man mit der größten Reform der F1-Geschichte wieder für Spannung sorgen. Mitte 2004 muss man erkennen: Diese Reform ist gescheitert!

Michael Noir Trawniczek

Eigentlich hätte gestern in Silverstone ein neues Qualifying seine Premiere feiern sollen. Stattdessen wurde auf absurde Art und Weise demonstriert, wie wenig Sportsgeist die aktuelle Formel 1 verkörpert – die sogenannte „Königsklasse“, die angebliche Mutter aller Automobilrennsportserien verkommt zu einer selbstgefälligen und publikumsverachtenden Taktierer- und Show-Sitcom...

Dabei geht es gar nicht so sehr darum, ob jetzt das im ersten Qualifying von beinahe allen Piloten praktizierte Abbremsen oder der absichtliche Dreher von Michael Schumacher die schallendere Ohrfeige darstellt – die Protagonisten taten ja nur ihre Pflicht, wie man diese Rechtfertigung aus viel schlimmeren Zeiten her kennt – die wirkliche Farce ist das gegenwärtige Reglement der Formel 1.

Dieses Reglement ist das Ergebnis einer Reform, welche die Formel 1 hätte retten sollen. 2002 ächzte die „Königsklasse“ unter der Last der Seriensiege von Michael Schumacher und Ferrari. In diesem Jahr trieb es die Scuderia zu weit – Podiumskasperltheater und Schiebung in Spielberg, peinliches „Fotofinish“ in Indianapolis. Max Mosley und die FIA reagierten, auch die Teams beschlossen, neue Wege zu gehen – denn die Einschaltziffern sanken ins Bodenlose und die Quoten sind das tägliche Brot der Formel 1-Götter...

Die ab 2003 eingeführten Regeländerungen waren so einschneidend wie es die Formel 1 noch nie zuvor erlebt hatte. Man wollte die Show verbessern, man wollte buntere Startaufstellungen und spannende Rennen. Vor einem Jahr noch dachten viele: Die Reform hat gegriffen, die Überlegenheit der Scuderia ist Geschichte. Beim Saisonfinale war Kimi Raikkonen ein Titelkandidat.

Doch wenn man es aus heutiger Sicht analysiert, erkennt man schnell: Nichts hat gegriffen, die Formel 1 ist immer noch eine Formel Schumacher und eine Formel Gähn oder eine Formel Schach. Was vor einem Jahr passiert ist, war lediglich eine Performancesteigerung von Reifenhersteller Michelin – nur deshalb wirkte es so, als wäre die Formel 1 spannender geworden. Blickt man heute auf die F1, muss man sich fragen: Was haben die vielen Maßnahmen bewirkt? Was hat die Reform gebracht?

Der neue Punktemodus: Ab 2003 erhielten die ersten acht anstatt der ersten sechs Piloten WM-Zähler. Der Sieg wurde entwertet, denn der Zweitplatzierte erhält seit damals 8 statt 6 Punkte. Doch was hat diese Lösung gebracht? Fast hätte sie Kurioses bewirkt, denn 2003 wäre beinahe Kimi Raikkonen mit zwei Siegen Weltmeister geworden, ihm wäre ein Vizemeister Michael Schumacher mit sechs Siegen gegenüber gestanden.

Man hat den Sieg zugunsten der Show entwertet – die Titelentscheidung wurde im letzten Jahr bis zum WM-Finale hinausgezögert. Doch wie hätte die Weltöffentlichkeit auf einen Weltmeister Raikkonen reagiert? Auf einen Champion, der vier Siege weniger auf dem Konto hat? Tod dem Sport, es lebe die Show...

Einzelrunden-Qualifying mit Auftankverbot. Das Einzelzeitfahren ist im Endeffekt nichts anderes als ein Geschenk an TV-Promotoren und Geldgeber respektive Sponsoren. Die kleinen Teams können seither TV-Zeit garantieren. Man wollte jene Langeweile bekämpfen, die in der ersten halben Stunde des alten Qualifyings herrschte, als keiner den Pistenputzer spielen wollte. Heute hat man ein gähnend langweiliges und eigentlich sinnloses erstes Qualifying, und der zweite Lauf ist im Grunde uninteressant, weil er nur Vermutungen zulässt.

Wegen des Auftankverbots und der unterschiedlichen Spritmengen sind die erzielten Rundenzeiten nicht aussagekräftig. Das ist eine Herausforderung für die Herren an den Kommandobrücken, die in ihren Computersimulationen herauszufinden versuchen, wer wieviel Sprit an Bord hat – für die "normalen" TV-Zuschauer rund um den Globus ist es aber nur ein unverständliches und actionloses Prozedere. Am Sonntag wiederum herrscht Funkstille bis zum Rennen.

Erreichen wollte man bunte Startaufstellungen. Nach eineinhalb Jahren kann man sagen: Wo sind die bunten Startaufstellungen? Gerne würde man einmal einen Minardi vorne stehen sehen – doch bislang hat sich das nicht ergeben. Im Gegenteil - ein "Schuss ins Knie": Jetzt stehen die Autos aufgefädelt nach ihrem Grundspeed kombiniert mit ihrer Tankfüllung.

Wenn es am Start keine besonderen Vorkommnisse gibt, setzt sich das Rennen binnen weniger Runden – die Zeit-Abstände aus dem Qualifying addieren sich pro Runde – schon nach wenigen Umläufen gibt es Abstände von sechs Sekunden und mehr. Erst beim ersten Boxenstoppreigen kommt ein wenig Action ins Spiel. Überholt wird beinahe nur noch an der Box. Der Modus, der Farbe ins Spiel hätte bringen sollen, lähmt eigentlich die Formel 1.

Dass dieser Teil der Reform als gescheitert zu betrachten ist, erklärten im Grunde die Teambosse selbst vor ein paar Wochen, als sie für eine Quasi-Rückkehr zum alten Modus stimmten. Dass dann die TV-Anstalten und die Sponsoren sich bei den Teamchefs durchgesetzt haben, zeigt nur allzu deutlich, wer die Richtung vorgibt.

Elektronische Fahrhilfen. Die Fans wollten keine elektronischen Fahrhilfen mehr sehen. Mosley versprach, sie zu verbieten. Doch die Hersteller setzten sich durch, die Traktionskontrolle mit ihrem hässlichen Knattern riegelt ab, wenn der Fahrer zu heftig aufs Gaspedal steigt. Slides oder Drifts gibt es gar nicht mehr, die Autos fahren wie auf Schienen.

Man hat es auch verabsäumt, die Aerodynamik zu beschneiden. Daher ist Überholen immer noch derart heikel, dass man es lieber erst gar nicht versucht – man überlässt das Plätzegutmachen den Superhirnen am Kommandostand.

Holzreifen. Wie schon 1998 möchte man die hohen Kurvengeschwindigkeiten wieder über die Reifen bekämpfen – nur noch ein Reifenhersteller, nur noch wenige Sätze, extrem harte Mischungen. Es ist zu befürchten, dass zugleich die Aerodynamik nur halbherzig reduziert wird und die Autos wieder vom aerodynamischen Anpressdruck abhängig und dadurch wenig überholfreundlich sein werden...

Haltbarkeitsmotoren. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, kamen heuer die Haltbarkeitsmotoren hinzu. Mit ihnen soll angeblich gespart werden. Doch ihre Auswirkungen sind fatal. Wer an einem Freitag einen – unverschämt teuren – Tribünenplatz ergattert, sieht die Superstars an der Box herumstehen und die Datenblätter ihrer Testpiloten studieren.

Jede Runde könnte den Motor des Einsatzpiloten unnötig belasten – man fährt so wenig wie möglich. Junge Piloten kommen nicht zum Fahren. Eine Katastrophe – denn so werden Jahr für Jahr junge Talente wieder abgeworfen, weil sie aus Mangel an Übung zu langsam lernen und draußen schon wieder der nächste Pilot mit seinem Geldkoffer wartet.

Alles in allem muss man sagen: Die Reform 2003, die größte bisher, ist gescheitert. Die Überlegenheit der Scuderia beziehungsweise jene von Michael Schumacher wurde nicht gebrochen – zumal dies ohnehin nicht möglich ist, da sich der Beste immer durchsetzen wird. Hier gilt: Man kann Ferrari und Schumacher nicht vorwerfen, ihren Job meisterhaft zu erledigen. Man kann sich aber sehr wohl fragen, warum Automobilkonzerne nicht in der Lage sind, dem roten Gespann Paroli zu bieten.

Die Rennen sind bis auf wenige Ausnahmen reine Schachpartien – es wird gerechnet und taktiert, überholt wird selten. Man hat der Formel 1 traditionsreiche Elemente – wie die Tatsache, dass im Quali mit „leeren“ Tanks um die Pole gekämpft wird – weggenommen, um „mehr Show“ zu bieten.

Das Schlimme daran: Diese Show ist oftmals schlecht. Vollkommen absurd: In allen Trainingseinheiten eines GP-Weekends ist nicht bekannt, unter welchen Bedingungen die Protagonisten antreten – im Laufe des Rennens entpuppen sich die Strategien – dann kommt das Aha-Erlebnis - deshalb also war Pilot X im Quali auf Platz Y...

Streng betrachtet fahren die 20 weltbesten Automobillenker, wie man das gerne formuliert, in keinem Moment unter gleichen Voraussetzungen, ein Kampf "Mann gegen Mann" ist quasi nicht möglich – der eine hat viel Sprit an Bord, der andere muss sowieso bald an die Box – im Grunde fährt jeder sein Rennen für sich – nur im äußersten Notfall muss man auf der Strecke den Gegner bekämpfen.

Ein Schachspiel mit verdeckten Figuren. Für einen Laien oder nur am Rande Interessierten sind die heutigen Formel 1-Rennen nicht mehr durchschaubar. Kein Wunder, wenn das Interesse an der Formel 1 sinkt...

Reform der Reform. Nach weniger als zwei Jahren vollzieht Mosley nun eine weitere Reform, kurz bevor er als FIA-Präsident zurücktritt. Der Haltbarkeitsmotoren-bedingte Rundengeiz bleibt. Die Motoren müssen 2005 zwei Wochenenden über halten. Der den Sieg entwertende Punktemodus bleibt. Die Traktionskontrolle wurde bislang nicht angerührt, für 2006 sollen vielleicht Standard-Elektronikeinheiten kommen.

Hoffnungsschimmer: Der Diffuser, verantwortlich für einen großen Teil des aerodynamischen Anpressdrucks, soll beschnitten werden - das wünschen die Piloten schon seit Jahren, zusammen mit Slicks würde das ihrer Meinung nach das Überholen erleichtern – doch auf die Piloten hört scheinbar niemand bei der FIA. Piloten- und Publikumswünsche sind scheinbar uninteressant. Was das künftige Qualifying betrifft, gibt es seit der Ablehnung des bereits beschlossenen, für Silverstone geplanten Modus, keine konkreten Pläne.

Es besteht Anlass zu der Befürchtung, dass die Formel 1 weiterhin in die Ende 2002 eingeschlagene Richtung steuert. Placebo-Sparen statt Fahren in den freien Trainingseinheiten. Undurchsichtige Qualifikation. Taktikbestimmtes „Rennen“ mit seltenen Überholmanövern.

Hoffnung: Vielleicht kommt jemand, der den Sport wiederbelebt?

Bleibt die Hoffnung, dass irgendwann irgendjemand das Steuer in die Hand bekommt, der sich dem Sport, dem Racing und auch dem Publikum gegenüber verpflichtet fühlt.

Jemand, der die H-Motoren streicht, der das Auftankverbot nach dem Qualifying streicht, der die elektronischen Fahrhilfen streicht, der den Diffuser streicht und das Flügelwerk beschneidet, der die Rillenreifen streicht...

Jemand, der auf der FIA-Homepage einen Fragebogen für die Fans installiert und das Publikum nicht ignoriert, sondern in der Erstellung eines künftigen Regelwerks mit einbezieht.

Und jemand, der sich erdreistet, ein Budgetlimit einzuführen, mit Gewalt. Wenn man unbedingt sparen muss und will, dann müsste man es auch kompromisslos tun. Man erinnere sich an die empörten Reaktionen von Ron Dennis und Co, als Jaguar-Boss Tony Purnell ein solches Budgetlimit ins Auge fasste.

Hier müsste das Concorde-Abommen einfach zerschlagen werden und eine wirklich übergeordnete Sporthoheit etabliert werden. Vielleicht eine Art unabhängiges Komitee? Eine eigenverantwortliche Gruppe aus den verschiedenen Interessensgruppen wie Techniker, Piloten, Publikum, Veranstalter, etc. - die dafür sorgt, dass Racing wieder Racing ist. Wo der Fokus darin liegt, dass die zwanzig (und hoffentlich dann auch mehr als 20) Piloten ihren Gasfuß und ihren sensiblen Hintern wieder einsetzen dürfen und durch herzhafte Manöver die Rennen zu elektrisierenden Krimis gestalten.

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