
WEC, 6h von Sao Paulo: Analyse | 14.07.2025
Ekstase bei Cadillac - warum dominierte nur ein Auto?
Analyse des Cadillac-Doppelsiegs bei den 6 Stunden von Sao Paulo: Warum die #12 so viel stärker war als die #38 - Durchfahrtsstrafe als heimlicher Segen?
Den Jubel haben sich General Motors und Jota Sport mehr als verdient: Der Cadillac V-Series.R hat in der Langstrecken-Weltmeisterschaft (WEC) endlich seinen ersten Sieg eingefahren. Entsprechend groß war die Freude. Aber bei näherem Hinsehen stellt sich die Frage: Warum performten die beiden Fahrzeuge so unterschiedlich?
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Der Cadillac #12 (Lynn/Nato/Stevens) verlor durch seine Durchfahrtsstrafe in der Anfangsphase exakt 22,808 Sekunden (Rechnungsweg: Differenz der beeinträchtigten Rundenzeiten - 1:31.356 und 1:43.522 Minuten - hochgerechnet auf den Stint-Schnitt von 1:26.035 Minuten). Trotzdem gewann er mit einem Vorsprung von 57,016 Sekunden.
Wo hat also der Cadillac #38 (Bamber/Bourdais/Button) all die Zeit verloren? Da es für die #38 keinerlei Verzögerungen gab, kann die Lücke nur durch reine Pace-Unterschiede entstanden sein. Zur Beantwortung dieser Frage analysieren wir sämtliche Rundenzeiten, wobei Boxenstopps, Strafen und Full-Course-Yellow-Phasen ausgeklammert bleiben.
#12 war eine Viertelsekunde schneller - pro Runde
Die Analyse der Durchschnittszeiten über das gesamte Rennen ergibt folgendes Bild:
1. Cadillac #12 - 01:26.303 Minuten
2. Cadillac #38 - 01:26.555
Hochgerechnet auf 242 Rennrunden ergibt sich bei einem Rückstand von 0,252 Sekunden pro Umlauf ein Rückstand von 1:01,984 Minuten. Hinzu kommen 3,318 Sekunden, die die #12 durch insgesamt kürzere Boxenstandzeiten gewann - die Durchfahrtsstrafe natürlich herausgerechnet.
Beide Cadillac fuhren auf unterschiedlichen Strategien, wie ein Blick auf die Boxenzeiten zeigt: Die #38 absolvierte eine klassische Strategie mit vier Reifen bei jedem zweiten Stopp. Die #12 hingegen wechselte alle vier Reifen nur zur Rennmitte und erneut beim letzten Halt. Bei den anderen Stopps wurden zwei Reifen gewechselt.
Boxenstoppzeiten beider Cadillacs (#12/#38):
1. Stopp: 1:14.940/1:17.110 Minuten (Undercut der #12)
2. Stopp: 1:16.974/1:21.719
3. Stopp: 1:19.944/1:17.983
4. Stopp: 1:16.382/1:22.746
5. Stopp: 1:17.775/1:09.775 (#38 gleicht Offset vom ersten Stopp aus)
Für die Strategie der #12 gibt es zwei mögliche Erklärungen. Entweder war die Strategie geplant, weil Jota sich gegen ein späteres Safety-Car absichern wollte - eine Strategie, die in der WEC spätestens seit den 6 Stunden von Fuji 2024 an Beliebtheit gewonnen hat, als sich durch ein spätes Safety-Car gezeigt hat, wie wichtig hohe Feuerkraft hinten heraus ist.
Eine andere mögliche Erklärung ist ein taktischer Zug beim zweiten Boxenstopp, den wir weiter unten erläutern.
Die #38 setzte klassisch auf Reifenwechsel beim zweiten und vierten Stopp und beschränkte sich sonst auf zwei Reifen. Unterm Strich war die #12 an der Box trotzdem um gut drei Sekunden schneller. Nicht entscheidend, aber erwähnenswert.
War die Durchfahrtsstrafe sogar ein Vorteil?
Werfen wir einen genaueren Blick auf die einzelnen Stints. Wir wenden wieder dieselbe Methodik an wie weiter oben, rechnen also Strafen, In- und Outlaps sowie FCY-Runden raus. Daraus ergibt sich folgendes Bild:
Stints #12: 1:26.035/1:26.294/1:26.472/1:26.116/1:26.477/1:26.482
Stints #38: 1:26.305/1:26.924/1:26.300/1:26.507/1:26.671/1:26.643
Auffällig ist vor allem der zweite Stint: Earl Bamber verlor dort durchschnittlich mehr als sechs Zehntelsekunden pro Runde auf Will Stevens, mehr als doppelt so viel wie im ersten Stint.
Der Grund ist schnell gefunden: Bamber lief auf den Porsche #5 (Andlauer/Christensen) auf, der zunehmend unter Reifenverschleiß litt. Stevens hingegen hatte noch freie Bahn, kam gegen Ende des Stints an das Führungstrio heran.
Und hier könnte sich die Durchfahrtsstrafe gegen die #12 tatsächlich als Segen erwiesen haben: Stevens fiel zunächst auf den vierten Platz hinter den Peugeot #94 (Duval/Jakobsen) zurück. Um hinter diesem keine Zeit zu verlieren, holte Jota Stevens schon nach 34 Runden zum Boxenstopp rein. Der Porsche #5 und der Cadillac #38 kamen erst eine Viertelstunde später.
Nun lief Stevens also auf den Zweikampf an der Spitze auf, musste aber ohnehin an die Box. Womöglich sah Jota hier die Chance, bei einem Wechsel von nur zwei statt vier Reifen an beiden anderen Fahrzeugen vorbeizugehen. Wobei hier angemerkt sei, dass der Undercut-Effekt und das anschließende Duell der #5 und #38 wohl auch bei vier frischen Reifen für die #12 zur Führung gereicht hätte.
So gesehen war die Durchfahrtsstrafe für zu niedrige Reifendrücke zwischen der siebten und 14. Rennrunde also vielleicht sogar ein Segen. Realistisch betrachtet hätte Stevens Andlauer aber auch auf der Strecke überholt, die Pace war schlicht zu stark.
Bourdais findet keinen Rhythmus
Im dritten Stint war die #38 erstmals schneller, was den vier frischen Reifen zu verdanken war. Doch der Vorsprung von 0,172 Sekunden pro Runde reichte nicht, um die zuvor im Kampf mit dem Porsche verlorene Zeit aufzuholen.
Im vierten Stint wendete sich dann das Blatt endgültig: Auf jetzt vier frischen Reifen fuhr Alex Lynn 0,391 Sekunden im Schnitt pro Runde schneller als Jenson Button. Beide Caddys setzten sich weiter vom Porsche #5 ab und der Doppelsieg schien bereits besiegelt.
Doch die Schluss-Stints werfen Fragen auf: Sebastien Bourdais, obwohl mit vier frischen Reifen rausgeschickt, war im fünften und sechsten Stint erstaunlich langsam unterwegs. Was war da los?
Bourdais klärt auf: "Ich geriet gleich zu Beginn in eine wirklich ungünstige Verkehrssituation mit vielen überrundeten Autos. Durch die verwirbelte Luft habe ich wahrscheinlich die Reifen in Mitleidenschaft gezogen. Danach hatte ich große Schwierigkeiten, einen Rhythmus zu finden."
Norman Nato hätte in der #12 im letzten Stint mit vier neuen Reifen wohl noch deutlich mehr herausholen können, aber es bestand keine Notwendigkeit mehr. Ohne die Strafe wäre die #12 vermutlich in der Lage gewesen, das gesamte Feld zu überrunden. Auch Jenson Button zollt Respekt: "Gut gemacht, #12 - ihr wart unantastbar."
Jubel über Premierensieg
Natürlich kennt der Jubel nach dem Rennen keine Grenzen. "Mit diesem Programm können wir alles erreichen, wovon wir träumen, ich bin total begeistert", jubelt Alex Lynn. "Ich glaube, dass diesem Auto und dieser Partnerschaft keine Grenzen gesetzt sind."
Lynn ist seit 2022 Teil des Cadillac-Programms und war maßgeblich an der Entwicklung beteiligt. Seit der Übergabe an Jota sieht er deutliche Fortschritte: "Jedes Mal, wenn ich ins Auto steige, denke ich: Verdammt, das gefällt mir. Mit diesem Gefühl sehe ich keinen Grund, warum wir nicht überall um den Sieg kämpfen sollten."
Für Teamchef Sam Hignett ist der Sieg höher zu bewerten als der Sensationserfolg von Spa 2024 als Porsche-Kundenteam: "Der Sieg in Spa war besonders, weil es unser erster war. Aber damals hatten wir Glück [durch den Neustart nach der Unterbrechung]. Diesmal haben wir den Doppelsieg durch pure Pace geholt."
Es ist der erste WEC-Sieg für Cadillac außerhalb der IMSA, wo der Hersteller seit 2017 bereits 31 Gesamtsiege erzielt hat. Für Lynn war es zudem die dritte Cadillac-Pole in der WEC - die 32. Prototypen-Pole insgesamt für die Marke.
Unter den Augen von Programmchefin Keely Bosn, die den Brasilien-Trip persönlich begleitete, war der Triumph ein voller Erfolg. Die frühere Navy-Seal-Soldatin hatte das LMDh-Programm im Winter von Laura Wontrop Klauser übernommen.
Mit dem Erfolg in Sao Paulo hält Jota eine beeindruckende Serie aufrecht: Seit dem Einstieg in die WEC 2016 hat das Team in jeder Saison mindestens einen Sieg gefeiert.