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„Nicht deppert schauen“: Kommentar
Foto: circuitpics.de

Nichtempörungsempörung versus Mindestanstand

„Die Muttis brauchen gar nicht so deppert schauen..“ - nicht der Spruch von Franz Tost sorgte für Empörung, sondern eine Entschuldigung des ORF. motorline-Redakteur Noir Trawniczek vertritt wohl die Minderheit, wenn er das Sorry des ORF für okay erachtet…

Kommentar von Noir Trawniczek

Der folgende Absatz ist ein gewagtes Gedankenexperiment. Hart über der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Hyper-Anständige sollten daher gar nicht erst weiterlesen…

Der Rest stellt sich folgendes TV-Bild vor: Der tödliche Unfall von Roland Ratzenberger in Imola 1994, der leblos in seinem Simtek sitzt, das Ausmaß dieser Tragödie noch nicht bekannt. Die Kamera schwenkt um auf einen äußerst besorgt wirkenden Ayrton Senna. Und aus dem Off die imaginäre Stimme aus der Zukunft, die Stimme eines Fantasie-Franz Tost aus dem fernen 2025, die da säuselt: „Da braucht der Senna gar nicht so deppert drein schauen - in der Formel 1 fehlen gerade noch seitlicher Cockpit-Aufprallschutz und HANS wurde noch nicht erfunden, es ist Genickbruch-Period!“

Der Aufschrei wäre wohl bis ins hinterste Hintertupfingen noch zu hören. Denn völlig zu Recht würde man fragen: Wie kann man nur dermaßen empathiebefreit sein?

Sie finden, man könne das nicht mit dem „Mutti-Sager“ von Franz Tost in Verbindung bringen? Abwarten! Heben Sie sich Ihre Empörung für die folgenden Absätze auf.

“Schwerster Unfall seit Jahren“

Jener Unfall von Gabriel Bortoleto, bei dem Tost den „Muttis“ (Mutter, Schwester und Freundin des Piloten) riet, dass sie „gar nicht so deppert schauen“ brauchen, war bereits der zweite an diesem Wochenende. Am Tag davor hatte Bortoleto einen Crash, den viele Experten als den „schwersten Formel 1-Unfall seit Jahren“ bezeichnet haben. Es gab zwei Einschläge: Den ersten mit 34, den zweiten mit unfassbaren 57g. Auf dem Körper des 21-Jährigen lastete also für einen Moment das 57-Fache seines eigenen Körpergewichts. Ja, die Formel 1 oder der Motorsport allgemein wurden sicherer, kein Vergleich mehr zu den „rasenden Särgen“ des vorigen Jahrtausends. Nur: Der menschliche Körper ist auch heute noch vulnerabel, verletzlich, trotz aller Knautschzonen. Was, wenn einmal die Aorta reisst? So etwas kann, schon bei wesentlich geringeren Kräften, immer passieren.

Dass also jene Menschen, die man gemeinhin als „Liebste“ bezeichnet, Mutter, Schwester und Lebensgefährtin, besorgt sind wenn nach einem dermaßen heftigen Crash am Tag darauf erneut ein Unfall des Sohnes, des Bruders, des Geliebten im Live-TV zu sehen ist, braucht einen auch 2025 nicht zu verwundern. Genau jene Liebsten übrigens, welchen jene Fans, die Tosts Anmerkung zum Schenkelklopfen lustig finden, wohl ein Kerzerl oder zumindest ein weinendes Smilie gewidmet hätten, wäre der Unfall vom Samstag eben nicht glimpflich ausgegangen. Da hätte man sicher ganz viel Empathie mit den Hinterbliebenen gezeigt und vielleicht sogar einen Tag lang eine schwarze Fläche als Profilbild gewählt…

Empörungs-Tsunami nach Nichtempörung

So aber kam es zu einem regelrechten Empörungs-Tsunami. Nicht wegen des Tost-Sagers. Sondern vielmehr deshalb, weil es der ORF wagte, sich für den Tost-Spruch zu entschuldigen. Sich nur zu entschuldigen - kein Canceln, keine Ende der Kooperation, kein empörtes Anprangern, nur ein Sorry. Empörung kam also erst von jenen, die dem ORF wegen seiner Entschuldigung vorwarfen, „weichgespült „und „woke“ zu sein. Tost habe doch Recht gehabt und überhaupt: Die Frauen an den Boxen würden keine Ahnung haben vom Motorsport und seien doch ohnehin überflüssig. Die sollen sich nicht aufregen, Bortoleto sei eben gerade - wie es Experte Tost formulierte - in der „Crash-Period“. Überhaupt sei die Gesellschaft heutzutage verweichlicht und jedes Wort werde auf die Waagschale gelegt…

In den Kommentaren auf News-Plattformen und in den sozialen Medien konnte man den Eindruck gewinnen, dass rund 90 Prozent der Fans, männlich und auch weiblich, die Aussage von Franz Tost völlig okay, ja sogar total lustig fanden und finden. Ärgerlich sei lediglich die Entschuldigung des ORF.

Je sui Mindestanstand

Ich gehöre zu jenen gefühlten fünf bis zehn Prozent, die den Spruch von Franz Tost als entbehrlich einstufen und die Entschuldigung des ORF für gut und nötig erachten. Weil ein gewisser Mindestanstand bleiben sollte. Weil es nicht soooo lustig ist, in Sportübertragungen jemandem „deppert schauen“ zu attestieren, egal wer es ist. Es sind die Menschen in den schnellen Autos und jene rundum, die mich interessieren. Und Menschen, die gerade wegen eines Unfalls ihres Liebsten besorgt schauen, haben nicht Hohn und Spott, sondern unsere Empathie verdient.

Ob mehr dahinter steckt, ob Franz Tost ein alter weißer, vielleicht sogar ein misogyner Boomer ist? Diese Frage ist mir jetzt gerade herzlich egal, zumal er ohnehin keine wichtige Rolle mehr spielt. Ich sehe es unaufgeregt so, dass Tost etwas Dummes heraus gerutscht ist, wofür man sich eben entschuldigt - und fertig ist es. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Der A&W-Verlag bildet ein breites Meinungsspektrum ab. Kommentare müssen nicht der Meinung des Verlages entsprechen.

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