
Formel 1: Kommentar | 26.12.2015
Haben die Fans ein Recht auf Information?
Michael Schumacher kann wieder gehen? Oder doch ein Pflegefall? Stimmt beides? Ist beides falsch? Wie auch immer: Der jüngste Trubel wirft Fragen auf…
Michael Noir Trawniczek
„Es ist die Sensation (und das vermutlich tollste Weihnachtsgeschenk): Michael Schumacher kann wieder gehen!“, verkündet die Königin im Reich der gedruckten Widerwärtigkeit, die Bunte am 22. Dezember auf ihrem Facebook-Profil – der Link führt zu einem kurzen „Anreißer“-Artikel auf der eigenen Website, die Story selbst würde es natürlich nur im gerade erschienenen Heft zu lesen geben. „Ab zum Kiosk!“ heißt es in einem weiteren Facebook-Eintrag am gleichen Tag, der Ersteintrag bringt über 100.000 Likes (im Schnitt erhält man rund 500 der „Gefällt mir“-Daumen) und wird mehr als 6.000 Mal geteilt…
Man habe „exklusiv mit einem Vertrauten des Formel 1-Helden“ gesprochen, versichert die Zeitschrift, die anonyme Quelle erzählt: „Er ist sehr dünn. Aber er kann schon wieder ein bisschen laufen mithilfe seiner Therapeuten. Er schafft es, ein paar Schritte zu gehen. Auch seinen Arm kann er heben.“
Grotesk: Wer an diesem 22. Dezember am Kiosk die Bunte kaufen möchte, wird vom Cover der Bild-Zeitung in dicken Lettern angesprungen: „Riesen-Streit um Schumi!“ Darunter ist zu lesen: „Managerin bestreitet alles und erhebt schwere Vorwürfe.“
Seit der am 29. Dezember 2013 beim Schifahren verunfallte Michael Schumacher nach einer langen Koma- und einer Aufwach-Phase im September 2014 an seinen Schweizer Wohnsitz verlegt wurde, um dort, im Kreise seiner Familie nach dem erlittenen schweren Hirn-Trauma die dritte Phase seiner Rehabilitation anzutreten, gab es für die Öffentlichkeit keine weiteren Informationen über den Gesundheitszustand des siebenfachen Formel 1-Weltmeisters.
Dementi
Schon öfter musste Schumachers langjährige Managerin Sabine Kehm verschiedene, meist optimistische Aussagen zur Gesundheit des 46-Jährigen dementieren – es ist zu befürchten, dass manche Medien sogar gezielt Falschmeldungen streuen, um auf diese Art und Weise Kehm zu einer Stellungnahme zu zwingen und Informationen zu erhalten. Auch das Dementieren von Aussagen gibt Informationen preis, die man sonst nicht erhalten würde…
Im jüngsten Fall erklärte Sabine Kehm gegenüber Bild: „Leider werden wir durch einen aktuellen Pressebericht zu der Klarstellung gezwungen, dass die Behauptung, Michael könne wieder gehen, nicht den Tatsachen entspricht. Solche Spekulationen sind unverantwortlich, denn angesichts der Schwere seiner Verletzungen ist für Michael der Schutz seiner Privatsphäre sehr wichtig. Leider führen sie außerdem dazu, dass viele Menschen, die ehrlich Anteil nehmen, sich falsche Hoffnungen machen.“
Es erscheint zunächst verwirrend, dass die Bunte auf das Dementi der eng mit der Familie kooperierenden Managerin damit reagierte, dass man bei der im Heft zitierten Darstellung der anonymen „Vertrauensperson“ der Familie bleiben werde. Tanja May, die stellvertretend Chefredakteurin der Zeitschrift, erklärt dazu: „Die Informationen, die wir haben, sind absolut vertrauenswürdig, absolut korrekt. Wir sind seit zwei Jahren immer absolut gut informiert: In welcher Klinik er liegt, auf welcher Reha-Station er liegt, wann er nach Hause kommt.“
Von wegen Weihnachtswunder
Regelrecht perfide ist jedoch der Umstand, dass die als „Weihnachtswunder“ verkaufte Story eigentlich gar keines ist – es ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Der von der Bunten zitierte Kronzeuge erzählt nämlich auch ganz und gar nicht Erfreuliches: „Michaels Gehirn ist seit dem Unfall schwer geschädigt. Er ist ein Pflegefall. Das wird auch so bleiben.“Ein Journalist der Zeitung Die Welt hat bei Sabine Kehm in Bezug auf diese konkrete Aussage angefragt – doch laut dem Bericht der Welt wollte sich Kehm dazu nicht äußern. In dem Bericht heißt es nun, Kehm habe jene Meldung, wonach Schumacher wieder gehen könne, dezidiert dementiert, während sie die Aussage, Schumacher werde ein Pflegefall bleiben, unkommentiert ließ. Die Schlussfolgerung daraus lässt der Bericht offen – doch es ist klar, was gemeint ist: Dass jene Meldung, wonach Schumacher ein Pflegefall bleiben werde, leider der Wahrheit entspricht…
Solche Befürchtungen plagen wohl auch Willi Weber, der frühere Manager von Michael Schumacher beklagte sich, dass ihm die Familie Schumacher bereits mehrmals den Besuch verweigert hat und erklärte in Bezug auf die jüngsten Vorkommnisse gegenüber dem Express: „Ich finde es bedenklich, dass man nichts von der Familie hört. Einen Durchbruch in der Rehabilitation würde man sicher mitteilen. Michael war ein Mann, der in der Öffentlichkeit stand.“
Das Stichwort Öffentlichkeit führt zu jener heiklen, äußerst sensiblen Frage, die der Fall Schumacher aufwirft: Nämlich ob und wie weit die Öffentlichkeit ein gewisses Anrecht auf Informationen hat? Nüchterne Informationen wohlgemerkt - keine Fotos, keine Homestory oder dergleichen, sondern lediglich die medizinischen Hardfacts…
Sabine Kehm selbst bringt in ihrer Stellungnahme jene Menschen ins Spiel, die „ehrlich Anteil nehmen“ und sich aufgrund von Fehlinformationen „falsche Hoffnungen“ machen würden. Diese Menschen also, um die sich Kehm wegen der Falschmeldungen sorgt, haben seit zwei Jahren keinerlei Infos über den Gesundheitszustand ihres Idols erhalten – ein Vakuum an Informationen also, das ebenso wie die Falschmeldungen die „ehrlich Anteil nehmenden“ Menschen dazu bewegen könnte, sich in „falschen Hoffnungen“ zu verlieren…
Es stellt sich die Frage: In wie weit besteht ein berechtigtes öffentliches Interesse am Gesundheitszustand von Michael Schumacher? Ist es vertretbar, dass eine Person, die im Grunde erst durch das große öffentliche Interesse zu ihren hohen Einnahmen respektive zu ihren Sponsoren kam, nach einem dermaßen schlimmen Unfall völlig von der Bildfläche verschwindet und Millionen von Fans im Ungewissen lässt? Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen: Ohne das große öffentliche Interesse würde die gesamte Formel 1 nicht funktionieren – in der Folge ist also nicht nur die Karriere eines Michael Schumacher, sondern auch jene von Sabine Kehm indirekt von den Fans ermöglicht worden…
Wie lange noch Null-Information?
Auf der offiziellen Website von Michael Schumacher werden die interessierten Fans emotional „abgeholt“, wie es im Fachjargon heißt. Auch heute noch. Und auch heute noch wird auf der offiziellen Website Merchandising betrieben. Die „Anteil nehmenden Menschen“ sollen also weiterhin emotional mit Schumacher in Verbindung bleiben und auch fleißig seine Merchandising-Artikel kaufen. Auf der Homepage erfährt der interessierte Fan quasi alles rund um das Thema Schumacher – nur eines erfährt er nicht: Wie es Schumacher geht…Weniger kompliziert bringt es ein Leser der Bild auf deren Onlineportal zum Ausdruck – in einem Kommentar schreibt er: „Schumacher hat sein Leben lang in der Öffentlichkeit gestanden und auch gut davon gelebt. Diese Geheimniskrämerei um seinen tatsächlichen Gesundheitszustand finde ich lächerlich. Jeder kann sich vorstellen, welche Folgen seine Kopfverletzungen haben. Die Familie soll sich ehrlich machen und dann hören auch diese ständigen Spekulationen auf.“
Nicht vergessen darf man dabei das große Leid, welches die Familienangehörigen von Michael Schumacher zu ertragen hatten und – wenn die schlimmsten Befürchtungen stimmen sollten, wonach Schumacher geistig auf dem Level eines Schwerstbehinderten geblieben sei – auch noch zu ertragen haben. Dass hier die Privatsphäre zu schützen ist, versteht sich von selbst. Nachvollziehbar ist auch, dass das Verhältnis zwischen Corinna Schumacher und den Medien schwer getrübt ist – seit dem tragischen Unfalltag haben die Medienvertreter mit allen und mitunter wirklich widerwärtigen Mitteln versucht, Infos über dessen Gesundheitszustand zu erhalten, erst unlängst soll ein „Drohnenangriff“ auf dem Grundstück der Familie erfolgt sein. Doch es geht nicht darum, skrupellose Medienvertreter zu bestrafen…
Es geht vielmehr um jene Menschen, die seit vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten Michael Schumacher emotional nahestehen, ihm stets die Daumen gedrückt haben und jetzt emotional zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit umherirren…
Wie lange wird man noch zuwarten, um die Öffentlichkeit mit einer nüchternen medizinischen Diagnose zu versorgen? Oder aber ist es geplant, Michael Schumacher völlig aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit zu nehmen?
Die aktuelle Vorgangsweise in Verbindung mit dem in früheren Mitteilungen stets geäußerten vorsichtigen Optimismus erweckt jedenfalls die Vorstellung, Schumacher würde zwar langsam aber doch genesen und man warte einfach noch ab, bis Schumacher soweit wiederhergestellt ist, sodass er dann im besten Fall gleich selbst zu seinen Fans sprechen kann. Im Grunde also sorgt die aktuell praktizierte Null-Information genauso für „falsche Hoffnungen“ wie die von Sabine Kehm dementierte Meldung, wonach Schumacher wieder gehen könne…
Über kurz oder lang wird man wohl einlenken müssen – allein die Statistik auf dem Facebook-Profil der Bunten zeigt eindrucksvoll, dass es immer noch ein sehr hohes öffentliches Interesse am Gesundheitszustand des Rekordweltmeisters gibt. Ein kurzer medizinischer Befund würde für Klarheit sorgen und auch die leidigen Spekulationen beenden. Bei jedem zahlenden Vertragspartner würde man es wohl einsehen, dass man einen solchen Befund benötigt, um mögliche Säumnisse seitens Schumachers auch rechtlich abzudecken. Die Fans sind im Grunde nichts anderes, auch sie waren und sind unterstützende Partner des Formel 1-Piloten – mit dem Unterschied, dass es hier nicht um eine rechtliche Legitimation geht, sondern um emotionalen Frieden.