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Klein-Maybach

In China erhält die Langversion der E-Klasse von Mercedes-Benz auf unzähligen Testkilometern ihren Feinschliff. Wir testen den E 300 L.

Jürgen Zöllter/mid

Sie arbeiten im Verborgenen, ihre Missionen sind geheim: Ingenieure der Automobilindustrie erproben neue Fahrzeuge über drei Jahre hinweg, bevor sie in Kundenhände gelangen. Dabei soll ihnen niemand zuschauen!

Grund genug, die einsamsten Gegenden der Welt aufzusuchen: Die arktische Kälte von Kanada und Finnland, die heißen Wüsten Südafrikas, Nordamerikas und Australiens sowie die extremen Höhenlagen Chinas. Dass Mercedes-Entwickler in die chinesische Millionenstadt Chongqing fahren, ist dagegen ungewöhnlich.

Wir begleiten ihre Mission, ein Auto zu optimieren, das in Deutschland vorentwickelt wurde und in China seinen letzten Schliff bekommt. Die Langversion der neuen Mercedes E-Klasse, intern als V213 bekannt, läuft bei Beijing Benz Automotive Co. (BBAC) speziell für den chinesischen Markt vom Band.

Test-Ingenieur Marvin Rietsche entriegelt und bittet einzusteigen: Heute greift er selbst ins Lenkrad, während wir dort Platz nehmen, wo das Zentrum aller Entwicklungsbemühungen liegt: hinten rechts. Hier sitzt der chinesische Mercedes-Kunde, der es "zu etwas gebracht" hat und lässt chauffieren. Auf ihn ist die verlängerte Version des E300 L zugeschnitten - mit 14 Zentimeter mehr Radstand und 13,4 Zentimeter mehr Beinfreiheit auf den Rücksitzen.

Mercedes schnürt einen Strauß an Komfort-Merkmalen, der den Vorlieben chinesischer Kunden folgt, die im Fahrzeug-Fond gern Geschäftsabschlüsse tätigen. Dafür wird der Physiognomie asiatischer Kunden Rechnung getragen und den Fahrgewohnheiten im chinesischen Großstadtverkehr.

Chinesen, denen ein Mercedes-Maybach zwei Nummern und eine S-Klasse eine Nummer zu groß ist, die nicht zuletzt in Folge zunehmender Dynamik von Anti-Korruptionskampagnen lieber weniger zeigen als sie haben, sehen die neue lange E-Klasse als "kleinen Maybach" - wegen ähnlicher Ausstattungsdetails sowie dem kleinen Dreiecksfenster vor der C-Säule, einer Hommage an den großen Bruder. Es wurde durch die länger ins Heck abströmende Dachlinie des langen E möglich.

Marvin Rietsche startet den zweifach aufgeladenen 2,0-Liter-Motor, und wir stutzen: Passt das Vierzylinder-Triebwerk zur Würde dieser 506 Zentimeter langen Chauffeurs-Limousine? Rational denkende Menschen werden mit dem Kopf nicken, denn jenseits von Prestige haschendem Zahlenspiel liefern 180 kW/245 PS bei 5.500 Touren mehr als genug Vortrieb auf chinesischen Autobahnen, wo höchstens 120 km/h erlaubt sind. Emotional mit ihrem Auto verbundene Menschen aber könnten die Laufruhe eines V8-Aggregats vermissen, zumindest die eines aufgeladenen Sechszylinders. Doch diesem Mercedes nähert man sich eher weniger emotional.

Die lange E-Klasse absolviert ihren Dienst im Alltag als geräumige Limousine und mobiles Büro mit kleiner Wellness-Option. Aufregend ist an diesem Auto nichts.

Es trägt im Interieur hellere Materialien und mehr Holzapplikationen als es europäischen Kunden lieb wäre und ist in höchstem Masse vernünftig: hochgerüstet mit Sicherheitstechnik und state-of-the-art Assistenzsystemen.

Rietsche spricht von der "aktuell intelligentesten Mercedes-Limousine". Neben den Kamera- und Radar-basierten System zum teilautonomen Fahren in dichtem Verkehr sowie zur Unfall-Prävention, die man aus der S-Klasse kennt, kann ein "Concierge Service" in Anspruch genommen werden.

Eine freundliche Stimme bucht dann beispielsweise ein gewünschtes Reiseziel direkt ins Navigationssystem. Das ist bei Chinesen sehr beliebt.

Über einen Schalter im Fond lassen sich Beifahrer-Sitz und Rückenlehne elektrisch nach vorn fahren. Jetzt ist hinten rechts Platz, die Beine übereinander zu schlagen. Beide Außensitze hinten können elektrisch verstellt, beheizt und belüftet werden.

Im Unterschied zu Europa tragen die in China montierten Kopfstützen weiche Kissen, die Sitzflächen haben eine zusätzliche Unterfütterung. Zu einem Chauffeurs-Fahrzeug gehört eine ausklappbare und beheizbare Mittelarmlehne.

In sie integriert liegen beim "langen E" ein beleuchtetes Staufach, ein USB-Anschluss sowie eine Ablage zum drahtlosen Laden des Smartphones. Ein ausziehbares Fach fungiert als beheizbarer Getränkehalter.

Um den Chauffeur ausschließlich als Fahrer zu beschäftigen, können viele Funktionen des Command Systems vom Fond aus über einen Touchscreen gesteuert werden - ebenso die Infotainment-Anlage mit Burmester-Soundsystem.

Angezeigt werden die Inhalte auf dem 12,3 Zoll großen Bildschirm aus der Mercedes S-Klasse. Für verspielte Manager treibt Daimler das Lichtspiel auf die Spitze: Nicht weniger als 64 Stimmungen hält die Ambiente-Beleuchtung vor. Deren LEDs sind in geradezu verschwenderischer Fülle verbaut. Sie können den "langen E" in eine rollende Diskothek verwandeln.

Derart abgelenkt hört man hinten rechts sitzend vom vorn eingebauten Vierzylindermotor so gut wie nichts. Nicht zuletzt, weil die Neungang-Automatik die Kurbelwelle zumindest im städtischen Stop-and-Go von Chongqing kaum schneller als 2.000/min drehen lässt.

Rund acht Stunden täglich fahren Marvin Rietsche und sein Ingenieur-Kollege Du Peng Cheng den "langen E" in der Megacity. Zwei Monate und rund 30.000 Kilometer später ist die Mission erfüllt. "Wir testen in Chongqing, weil hier insbesondere der Antriebsstrang extrem belastet wird", erklärt Rietsche.

Inzwischen sind wir über den Qiwan Expressway und die Autobahn G75 zur Hengshan Road gefahren, einer Serpentinenstraße auf die zahlreichen Hügel der Megacity hinauf.

Beim Überholen kriechender Lkw, plötzlichem Abbremsen vor tiefen Schlaglöchern und dem Herausbeschleunigen aus Kurven wechseln die Lastzustände der Aggregate im Sekundentakt und treiben die 9G-tronic zum fleißigen Wechsel der Fahrstufen. Die Außentemperatur liegt nahe 40 Grad, die Fensterscheiben sind sogar innen noch heiß. Hinzu kommt die extrem hohe Luftfeuchtigkeit.

"Auch die Nebenaggregate zur Kühlung von Systemen und Innenraum laufen ständig unter Volllast", erklärt Du Peng Cheng. "Doch davon sollen Sie im Fond nichts spüren!" Tatsächlich säuselt das Gebläse der Klimatisierung kaum vernehmbar. Im Innenraum herrschen 21 Grad.

Der Arbeitsplan schreibt rund 140 Kilometer Stadtverkehr vor, etwa 260 Kilometer Bergstrecken und über 400 Kilometer Schnellstrassen. Ein Datenspeicher "führt Buch" über das Befinden aller Komponenten. Im Entwicklungszentrum Beijing schauen die Kollegen dann, ob es zu Unregelmäßigkeiten kommt und eventuell nachgebessert werden muss.

Und wenn der Chef einmal selbst ans Steuer möchte? Dann fährt er eine Mercedes-Limousine, deren Lenkung Rückmeldung über den Straßenzustand gibt, deren Turboaggregat kein Ausbund hoher Kraftentfaltung ist, doch laufruhig seinen Dienst verrichtet. Das Luftfahrwerk entkoppelt ihn weitgehend von den Verwerfung chinesischer Straßen.

Für die Gesichtszüge des langen E haben chinesischen Kunden zwei Wahlmöglichkeiten: Je nach Selbstverständnis gibt es eine Status-orientierte mit klassischem Mercedes-Grill und Stern auf der Haube sowie eine sportlichere mit breiter Kühlermaske und integriertem Stern.

Beide sind für die Modelle E 200 L und E 300 L verfügbar. Später werden ein E 320 4Matic folgen und ein E 350 e L mit benzin-elektrischem Antrieb für chinesische Metropolen, die in absehbarer Zukunft nur noch Elektro- und Hybridfahrzeuge im Zentrum fahren lassen.

Die Einstiegsvariante Mercedes E 200 L kostet in China ab 436.800 RMB (umgerechnet rund 58.000 EUR), der E 300 L ist ab 474.800 RMB zu haben. Im Vergleich zur importierten Mercedes S-Klasse, die ab 1.000.000 RMB kostet, ist der "kleine Maybach" geradezu ein Schnäppchen - wenngleich etwas teurer als der vergleichbar ausgestattete Volkswagen Phideon. Fraglich ist deshalb, wie wertvoll der Status-Aufschlag für einen Mercedes in Zukunft noch sein wird. Beide neuen Modelle von Mercedes und Volkswagen kommen in diesen Tagen auf den Markt.

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