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Highway to Hell

Rasantes Quartett mit 6.000 PS: vier Bugatti Chiron bei der Heißklima-Erprobung im kalifornischen Death Valley. Wir waren dabei - bei 50 Grad.

Jürgen Zöllter/mid

Dennis Rohlfs sitzt am Steuer eines Bugatti Chiron, genauer von PT5.10, des blau-weißen Erprobungs-Fahrzeugs, einem Nullserien-Modell der ersten Baustufe.

Die Reise geht über 49 Grad Celsius heißen Asphalt, die Reifentemperatur beträgt 65 Grad. Es ist zehn Uhr morgens, und wir cruisen mit 55 Meilen pro Stunde durchs Death Valley (USA) Richtung Süden.

Die Kurbelwelle des aufgeladen 8,0-Liter-16-Zylinder-Triebwerks dreht nicht einmal 1.500 Mal pro Minute im 7. Gang. "Das ist erhöhtes Standgas", lächelt Rohlfs, der für die "Ionenstrom-Sensierung" zuständig ist, ein System zur innermotorischen Erkennung von Zündaussetzern und Klopfverhalten. Und es klingt, als seien die Hochleistungssportwagen auf den in der Hitze glühenden Straßen im Tal des Todes unterfordert. Doch der Schein trügt, und Bugatti Entwicklungschef Willi Netuschil erklärt den Hintergrund.

Was als technische Weiterentwicklung des Hochleistungs-Sportwagens Bugatti Veyron begann, sei am Ende in eine komplette Fahrzeug-Neuentwicklung gemündet. Insbesondere die Leistung des vierfach aufgeladenen Motors im neuen Chiron auf 1.500 PS zu steigern, habe zu grundlegenden konzeptionellen Veränderungen geführt.

"Der neue Chiron ist kein leistungsgesteigerter Veyron", betont Netuschil und hebt die Augenbrauen, "sondern ein, auch fahrcharakteristisch, komplett neues Fahrzeug." Unser Eindruck nach vielen Stunden Tuchfühlung: Hier reift der bislang schnellste GT der Automobilgeschichte heran. Ein Monster, das verblüffend einfach zu bändigen ist, ein Coupé mit hohem Reisekomfort und ein in Ausstattung und Ausführung fein geschliffenes Juwel der Automobilbaukunst.

"Wir wollten zur Leistungssteigerung nicht nur einfach größere Turbolader verbauen. Sie hätten das Ansprechverhalten des Chiron verschlechtert und ihn schier unfahrbar gemacht", sagt Netuschil. Schließlich entschied man sich für eine Registeraufladung und betritt technologisches Neuland: Die Herzklappe der komplexen Registerung ist ein Abschaltorgan. Es versperrt im unteren Lastbereich den Zugang des Abgases zu zwei Turboladern. Folglich sprechen zunächst nur zwei Lader an, zwei weitere schalten phasenverzögert ab 3.800 Touren dazu und schließen bis 4.000 Touren auf. Was so einfach klingt, bedarf völlig neuartiger, bis zu 1.000 Grad Celsius standfester Metall- und Keramik-Materialien.

Im Laufe der Entwicklung musste ein neuer Antriebsstrang her, ein neues Aerodynamik-Management und komplett neue, hochkomplexe Systemsteuerungen. Über die nochmals verstärkte, jetzt komplett aus Kohlefaser gefertigte Fahrzeugstruktur wuchs eine neue Außenhaut.

Weil alle Hardware-Entwicklungen und deren Zusammenspiel mittlerweile abgesichert seien, fahre man auf dieser Heißerprobung keine Stresstests, sagt Netuschil. Hier müssen alle Systeme Alltagstauglichkeit beweisen.

"Wir fahren so, wie ein Bugatti-Kunde später reist", ergänzt er. Dass die Bugatti Chiron dabei unter besonderen Stress geraten, ist konzeptionsbedingt. Denn anders als für einen 2,0-Liter-Frontmotor im Mittelklasse-Pkw tendieren die Fahrtwind-Durchströmungen des W16-Mittelmotors im voll verkleideten Chiron bei geringen Geschwindigkeiten gegen Null.

Alle Kühlsysteme arbeiten deshalb ständig unter erhöhter Last. Dazu Netuschil: "Die Belastungen sind bei niedriger Geschwindigkeit teilweise deutlich höher als bei schneller Fahrt!"

Nach dem Tanken klettert die Flotte einmal kurz aus dem glutheißen Tal ins Hitze speichernde Gebirge. Es geht über die US 374 Richtung Beatty, nahezu 30 Minuten ständig bergauf. Plötzlich nimmt Michael Gericke Witterung auf: Riecht der für das OBD-System (On Board Diagnose) zuständige Experte etwas, was andere nicht wahrnehmen?

Auf Passhöhe fahren wir rechts ran und lernen: Im Tal wurde vergleichsweise kalter Kraftstoff getankt. Fährt man bei großer Hitze bergauf, gast dieser aus. Um zu verhindern, dass der Aktivkohle-Behälter im Kraftstoffsystem überläuft, was zur Geruchsbildung führen würde, spült man mit Luft durch. Gericke schnüffelt, riecht aber nichts und schaut zufrieden: offenbar ist die Spülleistung des Systems jetzt ausreichend dimensioniert. Wir kehren zurück in den Brutkasten auf 86 Meter unterm Meeresspiegel.

Vier Chiron in Formation einer Jagdflieger-Staffel legen einen niederfrequenten Klangteppich über die heißeste Region der Erde. Sie dekorieren die Einöde mit Straßen zugelassener Hochleistungstechnik, wie sie die Welt noch nicht sah. Nur, die Bugatti ziehen wesentlich langsamer dahin als Jets.

Breit und flach kauern sie über dem Asphalt, blinzeln aus vier mal vier wachen Augenpaaren so, als würden sie auf irgendetwas lauern. Vielleicht auf einen beherzten Gasfuß?

"Nein, Hochleistung rufen wir auf Rundkursen ab", lenkt Netuschil ein, "Hier geht es um extreme thermische Belastungen im Ausflugsverkehr." Umso erstaunlicher, wie stark die Bugatti-Flotte trotz unspektakulärer Fahrdynamik die Erwartungshaltung von Passanten auflädt.

Am Furnace Creek stört plötzlich ein Mini-Van mit singenden Reifen die Betriebsamkeit. Jemand springt ab und eilt auf die Erprobungsfahrzeuge zu. "Sind das echte Bugatti?", fragt der Mann mit Schnappatmung und wartet die Antwort nicht erst ab.

"Ich habe nicht geglaubt, jemals einen Bugatti live zu erleben. Und jetzt fliege ich all-the-way von Australien nach Amerika und treffe gleich auf vier. Damit hat sich mein Urlaub gelohnt!"

Die Bugatti-Ingenieure dagegen folgen ihrem präzise definierten Arbeitsplan. Siegbert Slobianka mäkelt noch an der Ausrollschaltung rum. Ihn stört ein leichtes Rucken beim automatischen Zurückschalten im Schub bei niedrigen Touren. Daraufhin fährt er den Laptop hoch und verschwindet in den Tiefen des Applikationswaldes. Vor dem nächsten Zwischenstopp werde sanft zurückgeschaltet, versichert er.

Der Getriebe-Fachmann Wehren ist ein Virtuose der Software-Seite. Ingenieure wie er reden wenig, sie demonstrieren lieber, was geht: Fahrstufenwechsel aus dem siebenten Gang beim Wechsel von D ins Schaltprogramm S.

Der dritte Gang springt ein. Slobianka hebt den Daumen, der Übergang sei in Ordnung! Dann der gleiche Wechsel unter Volllast. Das Getriebe wechselt zu S2, was dem Ingenieur zu lange dauert. "Entweder sagen wir dem Motor nicht die richtige Drehzahl, oder er erreicht sie nicht schnell genug", grantelt er.

Nach dem nächsten Fahrerwechsel "schraubt" er ein paar Applikationen zurecht und lädt zum Re-Check ein. Verblüffend, wie schnell der Feinschliff erfolgt. Nachdem alle Schritte des Testplans "Heißerprobung Death Valley" abgearbeitet sind, treibt es die Ingenieure weiter nach Denver und Phoenix. Belastungen in Höhenregionen von Colorado und Arizona stressen dort vor allem die komplexe Ladetechnik.

Die Frage, was wenige Monate vor Fertigungsanlauf des neuen Chiron noch schiefgehen kann, beantwortet Willi Netuschil mit einem Lächeln: "Wir sind übern Berg! Der Chiron hat Laufen gelernt, wird seine Besitzer als Sprinter und Dauerläufer begeistern."

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