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FIA-Generalversammlung

Die unendlich vielen Aspekte im Fall Max Mosley

Über Genugtuung, Moral & Doppelmoral, Sexualität im Jahr 2008, die offene Nazi-Frage, die zerbröckelnde FIA und die Chance für einen Neubeginn.

Michael Noir Trawniczek, noir@motorline.cc

Eine Meinung zu haben, ist die Grundvoraussetzung für einen Kommentar. Oft verlangt ein solcher, dass man eindeutig Stellung bezieht - manchmal jedoch geht die Thematik weit darüber hinaus, etwas gut oder schlecht zu finden. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich aufzuspalten. Und auch das Thema muss seziert werden - die Bestätigung von Max Mosley als FIA-Präsident bringt derart viele Aspekte mit sich, sodass einem eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als noch einmal ganz weit auszuholen...

Genugtuung

Da gibt es zum Beispiel ein Gefühl der Genugtuung. Als die Menschen dieses Planeten kopfschüttelnd die Bilder vom zynisch mit einer Zielflagge verdeckten nackten Hintern des Herrn Präsidenten betrachtet haben, saßen irgendwo hinter den Kulissen ein paar Zeitgenossen, die sich die Hände rieben: "Jetzt haben wir ihn erledigt!" Und auch der Autor dieser Zeilen dachte intuitiv: "Das wird er nicht überleben." Die Genugtuung besteht darin, dass mit der Bestätigung Mosleys ein Signal ausgesendet wird: Das Zuschaustellen von privaten, von intimen, von sexuellen Handlungen eines Menschen führt nicht automatisch zu dessen Rücktritt.

Während der kriegerische George Bush seine Landsleute im Irak verheizte, wünschten sich viele AmerikanerInnen Bill Clinton zurück. Weil sie ihn als guten Präsidenten in Erinnerung haben. Dass er seine Frau mit einer Praktikantin betrogen hatte, war damals für viele ein Rücktrittsgrund. Heute jedoch wird Clinton weitgehend aufgrund seiner geleisteten Arbeit beurteilt.

Moral & Doppelmoral

Dass heutzutage Manager und Politiker wegen jeder geringfügigen "Moralverletzung" das Handtuch werfen müssen, ist eine Unart. Wer maßt sich an, zu beurteilen, welcher Manager moralisch verwerflicher ist: Jener, der an sich ein liebender und sorgsamer Ehemann und Vater ist, in einem Moment der Schwäche jedoch ein Bordell besucht? Oder jener, der kein Bordell besucht, seine Familie jedoch dem Job opfert und dessen Kinder ihren eigenen Vater nicht mehr erkennen, weil er so selten zu Hause ist? Die Praxis wird sein: Manager A wird gekündigt, Manager B wird ausgezeichnet.

Die sogenannten "Moralklauseln" sind der Dünger für die so genannte "Doppelmoral". So lange eine Person in ihrem Privatleben keine Straftaten begeht, hat dieses Privatleben respektiert zu werden und unangetastet zu bleiben. Moral ist ein dehnbarer Begriff - daher kann es hier keine objektive Beurteilung geben. Wir leben in einer Zeit der Aufklärung und der persönlichen Freiheit - für den Job ist es irrelevant, ob ein Mensch prinzipiell nur nach Heirat und nur in Missionarsstellung zum Zwecke der Vermehrung sexuell aktiv wird oder ob er sich von bezahlten Frauen auspeitschen lässt. Für die Erbringung eines guten Jobs relevant ist hingegen, ob ein Mensch in seinem Privatleben Erfüllung erlangt, ob er ausgeglichen ist. Oder ob er von sexuellen Fantasien übermannt wird und diese sich nicht getraut auszuleben - solch zwanghaftes Leben führt zum seelischen Ungleichgewicht und nicht selten sogar zu Gewaltverbrechen. Ein gutes Bild ist der Kochtopf, der überläuft...

Sexualität im Jahr 2008

Das Problem von Max Mosley ist, dass er einer sexuellen Randgruppe angehört. Doch die Zeiten ändern sich mit jedem weiteren Tag. Noch vor nicht allzu langer Zeit wurden Homosexuelle als krank bezeichnet, eingesperrt, kastriert oder sogar umgebracht. Und es gibt sogar heute noch Länder, die Ehebrecherinnen steinigen oder Frauen an Männer zwangsweise verheiraten, die sie nicht lieben. Die Bilder der Sadomaso-Aktion von Max Mosley empfanden viele Menschen als ungustiös, ekelerregend und pervers. Pervers ist aber auch, dass manche Max Mosley quasi dafür, dass man diese Bilder sehen "musste", als "Ungustl" verurteilen - ganz so, als ob er selbst das Video veröffentlicht hätte.

Der Formel 1-Zirkus, so sollte man annehmen, muss nicht sexuell aufgeklärt werden. Er sollte wissen, dass es verschiedene Formen von Sexualität gibt. Wer sich in Sexshops oder auf einschlägigen Internetseiten umsieht, wird erkennen, dass es heutzutage ein sehr breites Spektrum an sexuellen Praktiken gibt und dass immer mehr Menschen beginnen, ihre sexuellen Fantasien auszuleben. Das ist zu begrüßen - freilich nur so lange die beteiligten Personen freiwillig teilnehmen und sie volljährig sind.

Die Automobilwerke sind stets erpicht, all ihre potentiellen Kunden anzusprechen - daher täten sie gut daran, keine ihrer potentiellen Kunden wegen deren sexueller Vorlieben als pervers zu bezeichnen und daher vor den Kopf zu stoßen. Die Automobilwerke sollten bedenken, dass manche ihrer Kunden in deren Autos vielleicht sogar S/M betreiben. Und man darf übrigens gespannt sein, wie der Formel 1-Zirkus darauf reagieren wird, sollte einmal ein Pilot seine Homosexualität eingestehen.

Fazit: Sexualität ist etwas weitreichendes, sehr persönliches, etwas intimes und jede/r hat das Recht, sie im Privaten auszuleben. Sämtliche Praktiken sind so lange nicht verwerflich, so lange die Einvernehmlichkeit und das Strafgesetz nicht verletzt oder Mitmenschen dadurch belästigt werden. Punkt.

Die immer noch offene Nazi-Frage

Im Falle Max Mosley kommt aber noch der "Nazi-Aspekt" hinzu. Wahrscheinlich ist dieser Aspekt sogar der Schlüsselaspekt - denn in Wahrheit stand oder steht die Gesinnung von Max Mosley auf dem Prüfstand. Dass ein Entscheidungsträger der Automobilindustrie keinem Nazi öffentlich die Hand geben möchte, ist mehr als nur verständlich. Genauso lächerlich, wie der Vorwurf, es habe sich bei der S/M-Aktion um eine "Nazi-Orgie" oder um "KZ-Sex" gehandelt, ist das Untersuchungsergebnis eines FIA-Mitglieds, das, welch Wunder, jeglichen Nazi-Zusammenhang widerlegt. Beides ist deshalb lächerlich, weil es unmöglich ist, anhand des Videos oder des Rollenspiels einen Rückschluss auf die Gesinnung von Max Mosley zu ziehen. Zum einen gibt es keine Nazi-Utensilien in dem Video, zum anderen wären auch solche kein Beweis für eine Wiederbetätigung oder eine braune Gesinnung von Max Mosley.

Immer wieder wird auf den Vater von Mosley, den Faschistenführer Oswald Mosley verwiesen - und auf die Mitgliedschaft des jungen Max Mosley in der vom Vater gegründeten Bewegung. Daher sollte doch klar sein, dass Mosley in seiner Kindheit und Jugend unter dem Einfluss des in England zum "schlimmsten Briten" gewählten Vaters stand. Immer noch besteht die Möglichkeit, dass Mosley mit seinen sexuellen Aktivitäten ein Kindheitstrauma abarbeitet. Immer noch besteht aber auch die Möglichkeit, dass sich Max Mosley vom Nationalsozialismus angezogen fühlt, ja er sogar ein bekennender Nazi ist.

Es ist vollkommen unverständlich, warum Mosley bislang kein klares Statement zu seiner Gesinnung abgab. Es ist aber auch seltsam, warum keiner der so pikierten Entscheidungsträger der Automobilindustrie diese Frage klar in den Raum stellt. Manche sagen respektive sagen es nicht oder nur zwischen den Zeilen: "S/M ist Privatsache, aber mit einem Nazi wollen wir nichts zu tun haben." Doch das gehört, gerade jetzt, wo Mosley wiedergewählt wurde, thematisiert. Es stellen sich Fragen wie: Warum waren Sie in der faschistischen Bewegung Ihres Vaters, Herr Mosley? Wie denken Sie heute über den Nationalsozialismus, Herr Mosley?

Max Mosley wurde als FIA-Präsident bestätigt und er wird dieses Amt mindestens bis Oktober 2009 ausüben. Jenen Organisationen, die nun aus der FIA austreten möchten, könnte man nun Fragen stellen wie: Treten Sie aus, weil Max Mosley in seinem Privatleben Sadomasochist ist? Oder treten Sie aus, weil Max Mosley möglicherweise ein Nazi ist? Oder treten Sie einfach deshalb aus, weil der FIA-Präsident öffentlich zum Hampelmann gemacht wurde und er seit der Videoveröffentlichung eine "Persona non grata" geworden ist? Aus welchen Gründen auch immer?

Die verlorene Integrität

Das ist nämlich eine weiteres Kernthema: Mosley wurde ja quasi gleich "doppelt gemoppelt" - seine für viele Menschen widerwärtigen, zugleich jedoch (bis auf das absurde "Verletzungs-Verbot" ausgerechnet in England) legalen und daher zu akzeptierenden Sexualpraktiken wurden vorgeführt und er wurde als Nazi diffamiert. Eine geschickte Taktik - so kann man Mosley ohne näher auf das Thema einzugehen als "Persona non grata" betrachten. Da stellt sich die Frage: Wie wäre die Lage, wenn man Mosley einfach nur beim Onanieren gefilmt hätte? Würde das auch schon genügen, ihn als ungustiös zu empfinden und seinen Rücktritt zu verlangen? Obwohl es wahrscheinlich nur wenige Menschen gibt, die es noch nie gewagt haben, sich selbst zu befriedigen?

Viele Menschen waren und sind der Meinung, dass Mosley nach der Veröffentlichung seiner Sexpraktiken einfach nicht mehr als FIA-Präsident tragbar ist - weil er unabhängig davon, wie man zu S/M steht in seinen intimsten Momenten gefilmt und zur Schau gestellt wurde und er somit seine Autorität und auch seine Integrität verloren hat.

Die beschädigte FIA

Zwei Drittel der FIA-Delegierten waren jedoch nicht dieser Meinung. Und es ist offensichtlich, dass sich Mosley mit der Hilfe von kleinen und bislang unbedeutenden Mitgliedsländern diese Mehrheit verschaffen konnte. Diese Praktik zeigt uns auch, wie Entscheidungen innerhalb der FIA getroffen werden. Sogar von Bestechung wird gemunkelt...

Dass die Bestätigung von Max Mosley einen Schaden für die FIA darstellt, ist nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich droht der Automobilverband zu zerbröckeln. Bedeutende Mitglieder wie der ADAC mussten schmerzhaft erkennen, dass sie nur ein kleines Zahnrad im Getriebe der FIA, oder böse formuliert im Getriebe des Max Mosley sind. In seinem dramatischen Überlebenskampf, in seiner nicht unbegründeten Empörung darüber, dass man ihn mit solch letztklassigen Mitteln wie dem versteckten Video zu Fall bringen könnte, hat Max Mosley noch einmal aufgezeigt, wie dieser Weltverband arbeitet. Es geht darum, Lobbys zu formieren, um seine Interessen durchzusetzen. Dass sich am Place de la Concorde ausschließlich um das Wohl des Sports oder um die Sicherheit der Autofahrer gekümmert wird, glaubt wohl nur noch der Weihnachtsmann.

Rosen zum vermeintlichen Abschied

Das führt uns zum nächsten absurden Punkt: Offenbar waren sich viele derart sicher, dass Max Mosley abdanken muss, dass er plötzlich nur noch gelobt wurde für seine Verdienste. Und zwar nicht nur für seine tatsächlichen Verdienste um die Sicherheit - sondern es wurde vielfach auch erklärt, dass er quasi immer die richtigen Entscheidungen getroffen hätte. Frei nach dem Motto: Er muss ohnehin gehen, mit unseren Blumen wenden wir das negative Element eines solchermaßen erzwungenen Abgangs von uns selbst ab und stellen uns als mitfühlende Menschen dar. Man darf gespannt sein, wie man nun den bestätigten Präsidenten bewerten wird...

Was ist denn mit den privaten Formel 1-Teams, die Max Mosley seit mindestens 2003 retten möchte? Jahr für Jahr musste ein Rennstall zusperren - heute sind bis auf Williams nur noch Konzerne in der Formel 1 vertreten. Wie soll man die seit Jahren gepredigten Sparmaßnahmen einschätzen, wenn die Teams bis heute darüber klagen, die ständig neuen Regeln würden Unsummen verschlingen? Was soll man davon halten, wenn die Regeln in F1 und auch Rallye-WM derart komplex wurden, dass nicht einmal mehr die Aktiven sie völlig überblicken? Wie oft wurden Regeln eingeführt, die sich in der Praxis als haltlos, ja sogar gefährlich erwiesen haben? Erst unlängst wurde schnell eine Mindestrundenzeit für Outlaps nachgereicht, nachdem es mehrere Male auf der Piste wegen der Geschwindigkeitsunterschiede beinahe zur Katastrophe kam. Und schließlich wird die Bestrafung von McLaren-Mercedes in der Spionageaffäre für beträchtlich viele Beobachter noch lange den schalen Beigeschmack eines möglichen persönlichen Vernichtungsfeldzuges gegen Ron Dennis aufweisen.

Zerbröckelnde FIA eine Apokalypse?

Nach der Bestätigung von Max Mosley besteht die berechtigte Sorge, die seit 100 Jahren bestehende FIA könnte zerbröckeln. Doch das führt uns zur nächsten und letzten Frage: Ist die Vorstellung einer zerbröckelnden FIA wirklich eine drohende Apokalypse? Oder gibt es möglicherweise sogar positive Aspekte im Sinne einer Erneuerung? Hat man nicht vielerorts die verstaubte und bürokratische Struktur dieses Weltverbands beklagt und wäre eine Neugründung nicht auch eine Chance, quasi diesen abgestandenen Mief aus den Räumlichkeiten zu bekommen? Ist es nur mit dieser FIA möglich, die Sicherheit im Straßenverkehr weiter zu verbessern? Ist nur diese FIA in der Lage, den Motorsport zu reglementieren?

Freilich: Die Regeln sollten keinesfalls von den kommerziellen Rechteinhabern und schon gar nicht von den Teilnehmern an einer Weltmeisterschaft bestimmt werden. Aber wer sagt denn, dass es nicht zu einer völligen Neuordnung kommen könnte? Vielleicht wäre es besser, wie früher die FISA innerhalb der FIA - oder wie immer ein neu gegründeter Weltverband heißen möge - die Sportabteilung zu separieren? Sodass dort keine Bürohengste oder Apparatschiks ein Reglement schreiben, welches den vielen Interessen der verschiedenen Mitglieder, der Industrie etc. gerecht werden will, sondern Fachleute mit Motorsporterfahrung und Fannähe diese wichtige Aufgabe übernehmen?

Blauäugige Wunschliste

Am Ende noch eine kurze mit blauen Augen verfasste Wunschliste: Es wäre schön, wenn man solche Vorführungen wie sie Max Mosley passiert sind oder wie sie auch einer kurz vor dem völligen geistigen Entrücken stehenden Britney Spears und vielen anderen Prominenten und auch Nichtprominenten passiert sind, künftig aus der Medienwelt verbannen könnte. Es wäre schön, wenn Herr Mosley uns sagen würde, was er von der Politik seines Vaters und den Nationalsozialisten hält. Es wäre schön, wenn die Menschen im Jahr 2008 einander ihre unterschiedlichen sexuellen Vorlieben zugestehen könnten. Zudem wäre es schön, wenn die Autofahrer von versierten Autofahrern vertreten würden und der Motorsport von neutralen Fachleuten mit Nähe zu den Piloten und zu den Zuschauern reglementiert werden würde. Und wenn die Affäre Mosley am Ende dazu beitragen kann, hier eine Verbesserung der Lage zu bewirken, dann wäre das ebenfalls sehr schön.

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