Formel 1: Kommentar | 23.02.2006
Zur "Akte Klien"
Vom Einblick in die österreichische Neidgenossenschaft bis hin zur Frage: Wie schräg darf ein Formel 1-Pilot sein? Ein Kommentar zur "Affäre Klien"...
Michael Noir Trawniczek
Fotos: Robert May (Rally & more / motorline.cc), Photo 4
Sie haben einen kleinen Shop irgendwo in Österreich? Der Verkauf von ausgestopften Seepferdchen ist rückläufig? Dann gehen Sie doch einfach auf das nächste Polizeikommissariat und sagen: "Der österreichische Formel 1-Pilot Christian Klien hat mir eines meiner Seepferdchen in den Kopf gerammt und es noch dazu ohne zu bezahlen mitgenommen."
Mag sein, dass man Sie auf der Wachstube ein wenig seltsam oder zumindest skeptisch behandeln könnte - aber irgendwer bringt es dann sicher "in die Medien". Und wenn Sie Glück haben, ist Österreichs Medienwald in den folgenden Tagen voll gestopft mit ihren Seepferdchengeschichten. Zwei Tage später gehen Sie wieder auf das Kommissariat und ziehen einfach Ihre Aussage zurück. Sie werden sehen: Das Geschäft wird erblühen...
Zynismus beiseite - es gibt ein Problem mit der Unschuldsvermutung, es ist ein Medienproblem. Man kann heute mit einer unbelegten Aussage ganze Karrieren zerstören.
Nach der ersten Meldung um eine angebliche Zechprellerei des Christian Klien haben wir in der motorline.cc-Redaktion beschlossen, den Vorfall nicht zu bringen. Warum? Weil man zwar tausendmal erwähnen kann, dass die Unschuldsvermutung gilt, man aber alleine durch die Erwähnung des Vorfalls das Verdachtsmoment stärkt. Das wollten wir deshalb nicht tun, weil zu diesem Zeitpunkt beispielsweise noch nicht einmal klar war, ob Klien überhaupt vor Ort gewesen ist. Und weil das Ereignis von keinem sportlichen Belang war.
Als dann eine Anzeige wegen Verdachts auf Körperverletzung erstattet wurde, bestand so etwas wie ein Informationszwang - die Medienwelt, auch über Österreich hinaus, berichtete nun von dem Vorfall. Und schließlich gab es wenig später eine öffentliche Stellungnahme von Christian Klien.
Jetzt war die Angelegenheit auch kein reinrassiger "Kinderkram" mehr - wir erinnern uns: Der Franzose Bertrand Gachot musste 1991, in Spa, sein Jordan-Cockpit an einen Jungspund namens Michael Schumacher übergeben, nachdem er einen Taxifahrer mit Pfefferspray attackiert hatte und in Folge zwei Wochen in Untersuchungshaft verbringen musste.
Jetzt hat der einzige echte Belastungszeuge in der "Akte Klien" seine Aussage revidiert [siehe Artikel "'Opfer' zog Aussage zurück!" in der Navigation rechts, d. Red.] - und so braucht man auch nicht mehr darüber nachzudenken, wie Red Bull auf eine Verurteilung Kliens reagiert hätte. Und auch die angebliche Zechprellerei wurde geklärt - zumindest erklärte Klien, dass er einfach nicht bereit gewesen sei, ihm fremde Personen mitzufinanzieren - und wer will das schon?
"Red ma nicht übers Arbeiten!"
Zurückgeblieben sind einige so genannte Negativ-Schlagzeilen. Und: Das Studium diverser Foreneinträge, auch auf Kliens Website, verschaffte einen tiefen Einblick in Österreichs Neidgesellschaft.
Neben den nicht wenigen Verteidigern des Formel 1-Piloten - beispielsweise ein Lokalbesitzer, dem Klien bescheinigte, stets ein angenehmer und höflicher Gast gewesen zu sein - gab es zahlreiche Postings mit dem Tenor, Klien sei überheblich und wäre quasi abgehoben.
Nur ein Beispiel, aus dem Forum von Vorarlberg Online: "Interviews mit beiden Händen im Hosensack. Da sieht man, dass der Milchbubi kein Anstand hat. Soll er, hoffe ich, ein Bewährungsstrafe kassieren, dieser Idiot, ohne dem Multi Red Bull Salzburger würde er sicher kein Formel 1-Cockpit bekommen. Bin sicher nicht neidisch..."
In einem vor rund einem Monat abgehaltenen Exklusivinterview mit motorline.cc erklärte Christian Klien: "In Vorarlberg kennt man mich schon überall, das ist klar. Man kennt mich eigentlich in ganz Österreich. Aber in Vorarlberg ist das doch so, dass sie das zwar anerkennen, aber sie lassen mich im Großen und Ganzen eigentlich in Ruhe. Es kommt natürlich immer wieder mal einer her und quatscht mit mir über die Formel 1. Da sag ich dann halt: 'Du, ich hab heut Abend frei, bitte red ma nicht übers Arbeiten!'"
Was man nur allzu gerne vergisst, ist die Tatsache, dass jeder Mensch das Anrecht auf eine Privatsphäre haben muss. Bei den Barcelona-Tests gab es einen zwei Meter großen "Fan", der sich den kleingewachsenen Rubens Barrichello ungefragt einfach geschnappt und ihn umarmt hat, fürs Foto.
Jeder "Normalsterbliche" hätte sich gegen eine derartige Behandlung gewehrt oder sogar um Hilfe gerufen. Prominente sind keine Trophäen, die man sich an die Hutschnur stecken kann. Und weil die F1-Piloten in der Regel junge Burschen sind, sollte es - unabhängig vom "Fall Klien" - nicht verwundern, wenn einer von ihnen dann auch einmal ein bisschen zurückweisend ist.
Wie schräg darf's denn sein?
Ein James Hunt würde vor Lachen wohl seine geliebte Zigarette verschlucken, angesichts der jüngsten "Moraldiskussionen" in der Formel 1. Da gibt es ja auch noch den bösen Kimi Räikkönen, der in punkto Alkoholgenuss mitunter recht exzessiv agiert. Oder Tomas Scheckter, der wegen eines Freudenmädchens in seinem PKW die eben erst begonnene F1-Karriere beenden durfte. Oder Tomas Enge, der aus der Formel 1 ausgeschlossen wurde, weil er in seiner Freizeit Marihuana konsumiert hat. Die Formel 1 und die Moral - ein zweischneidiges Schwert. Viele wollen mehr "Charakterköpfe", doch wie soll das funktionieren?
Und so ergeben sich Fragen wie: Wie weit gestehen wir Formel 1-Piloten ein gewisses Maß an Entrücktheit zu? Wollen wir jetzt "schräge Vögel" oder doch lieber lauter brave, sich zehntausend Mal bei ihren Arbeitgebern bedankende "I have learned a lot"-Vertragskappenträger? Und wo ist die Grenze? Soll die Entrücktheit beim monatlichen Haarfarbenwechsel enden? Oder darf der optimale F1-Pilot auch einmal im Monat auf einem Tisch tanzen? Oder lieber doch Vorträge über "verantwortungsbewusstes Trinken" halten? Hier gibt es anscheinend noch viel zu diskutieren...
Eines könnte man auch noch dazu anmerken: Dass viele Mitmenschen lediglich unter Alkohol oder anderen Drogen "die Sau rauslassen", steht in einem anderen Kapitel geschrieben. Aber diese Frage stellt sich nicht nur den F1-Piloten. Denn: Würde man beispielsweise den gesamten Alkoholvorrat dieser Welt beseitigen, wäre Schluss mit lustig - und das nicht nur in Vorarlberg.