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Rückwärts in die Zukunft

Ziemlich exakt 10 Jahre nach dem McLaren P1, dem ersten Hybrid der Briten, beehrt sein spiritueller Nachfolger unseren Testfuhrpark. Nicht ganz so stark, nicht ganz so brutal; aber doch allemal ein ebenso Blicke auf sich ziehendes und verflucht schnelles Hypercar, wie man sich aus Woking erwartet. Nur eben eines, das bei Bedarf die freundschaftliche Beziehung zu den Nachbarn nicht gefährdet … vor allem im Rückwärtsgang.

Johannes Posch

Alles neu macht der Artura. Während also andere, aktuelle Modelle wie der 750S oder GT da und dort mehr oder weniger altbekannte Komponenten quasi nur neu aufwärmen, ist für den PHEV aus Woking tatsächlich so gut wie alles neu entwickelt worden. Das beginnt schon bei der Plattform: der McLaren Artura ist das erste Serienfahrzeug des Unternehmens, das auf der neuen McLaren Carbon Lightweight Architecture (MCLA) basiert. Sie kombiniert einen leichtgewichtigen Kohlefaser-Monocoque mit einem ebenfalls komplett neuen Antriebsstrang. Jener wiederum besteht aus einem Doppelturbo-aufgeladenen 3,0 Liter-V6-Motor, der tatkräftig von einem Elektromotor unterstützt wird. Das innovative Gespann ermöglicht eine Gesamtleistung von durchaus adäquaten 680 PS und eine maximale Drehmomentabgabe von 720 Nm. Damit stürmt der Artura in nur 3 Sekunden von 0 auf 100 km/h und erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von elektronisch begrenzten 330 Sachen, wobei 0-300 gerade einmal 21,5 Sekunden dauert.

Das bedeutet, dass der Artura nicht nur ähnlich flott ist wie der legendäre F1, sondern auch durchaus mit seinen aktuellen V8-Brüdern mithalten kann. Übrigens auch akustisch. Natürlich klingt ein V6 anders als die Achtender, die sonst für den Soundtrack bei McLaren sorgen. Doch auch der Artura braucht sich, vor allem wenn man zur bei unserem Testwagen auch verbauten Sportabgasanlage greift, nicht zu verstecken. Vor allem bei Kennern. Die werden nämlich merken, dass der Artura irgendwie „eigen“ klingt. Nicht, wie man es von einem klassischen Turbo-V6 erwarten würde. Das liegt daran, dass der M630 genannte Motor „fast“ ein Boxer geworden wäre. Ursprünglich überlegte man nämlich tatsächlich ein 180°-Layout zu verwenden, verwarf die Idee dann aber zugunsten einer um 120° geneigten Zylinderanordnung, weil erstere die Höhe der Kurbelwelle und damit den Schwerpunkt des Autos erhöht hätte. Der weite Winkel der V6-Zylinder ermöglicht es den Turboladern aber dennoch, in einer "Hot Vee"-Konfiguration in den Zylinderbänken zu sitzen, was auch der Effizienz zugutekommt; das Abgaslayout ist so gerader und daher weniger restriktiv. Am Ende des Tages jedenfalls liefert der neue V6 für sich allein stramme 585 PS und 585 Nm Drehmoment, ist dabei 190 mm kürzer und 220 mm schmaler sowie 50 kg leichter als McLarens 4,0-Liter-Twin-Turbo-V8. Und ganz nebenbei klingt er eben durchaus interessant; bis rauf zu seinem bei 8500 Umdrehungen liegenden Begrenzer.

Unterstützt wird er von einem E-Motor im Axial-Flux-Design, der gerade einmal die Größe einer McLaren-Bremsscheibe mitbringt, 15,4 kg wiegt und dafür durchaus beeindruckende 95 PS und 225 Nm beisteuern kann. Gespeist wird das Motörchen von einem 7,4-kWh-Lithium-Ionen-Batteriepaket mit fünf Modulen, das für 30 Kilometer E-Reichweite nach WLTP gut sein soll. Ein Wert, der wir im Stadtverkehr durchaus bestätigen können. Es sollte einem allerdings bewusst sein, dass der Wagen im reinen E-Modus lange nicht so schnell ist, wie er dann immer noch aussieht. Rein wirtschaftlich betrachtet bedeutet das aber freilich auch, dass der Wagen dank des PHEV-Setups (relativ gesehen) ein echtes Schnäppchen ist. Einerseits fällt dadurch nämlich hierzulande die NoVA weg, und andererseits ist der Verbrauch somit bei lockerer Fahrweise locker unter zehn Litern zu halten. Acht Liter Super Plus waren es etwa ganz genau auf unserer genormten Verbrauchsrunde … falls der Verbrauch irgendwen bei einem Auto wie diesem tatsächlich interessiert.

Mehr Sportwagen als PHEV


Sehr zur Freude des Redakteurs, und vermutlich auch der potenziellen Klientel, hat McLaren aber für den Artura nicht sämtliche bisherigen Konventionen über Bord geworfen. Bei Lenkung und Bremsen etwa blieb man bei altbewährtem … ja im Falle der Richtungsgebung eigentlich sogar bei heute schon fast ausgestorbenem: einem elektrohydraulischen statt rein elektrischem System nämlich. Und man muss ein solches – vor allem ein so fein austariertes wie dem von McLaren – einfach wieder einmal erleben, um zu wissen, was uns eigentlich bei modernen Autos die ganze Zeit entgeht. Jedes Steinderl auf der Straße ist zu spüren, das Grip-Niveau perfekt miterlebbar, der Wagen auf den Millimeter genau zu platzieren und das Fahrgefühl schlicht so immersiv, wie man es schon kaum mehr zu erinnern vermag.

Und dann sind da noch die Bremsen. Karbon-Keramik-Scheiben; eh klar. Aber darauf wollen wir nicht hinaus. Bei PHEVs und E-Autos gilt es ja als die große Kunst, Rekuperation und physikalische Verzögerung bzw. den Übergang dazwischen möglichst fein abzustimmen. Und manchen Herstellern gelingt das auch wirklich gut. Nur gerade im sportlichen Grenzbereich ist das „Feeling“ trotzdem nie dasselbe. Und genau das ist McLaren wichtig. Also: Energierückgewinnung und Bremspedal haben hier absolut nichts miteinander zu tun. Wird hier das linke Pedal bemüht, sorgen augenblicklich und allein die Bremsen für Geschwindigkeitsreduktion. Und das bei Bedarf auch mit Organ-verschiebender Kompetenz. Das „Energie unterwegs in die Akkus schaufeln“ obliegt hingegen einzig und allein dem V6.

Spannend hierbei: Startet man den Motor (bei Inbetriebnahme des Wagens selbst ist erst einmal immer der EV-Modus ausgewählt), durch Wechsel in den Comfort-, Sport- oder Track-Modus, läuft dieser erst einmal eine ganze Weile stoisch auf 1.500 Umdrehungen, ohne zum Vortrieb des Autos etwas beizutragen. Der Grund: Katalysatoren und restliche Komponenten müssen erst auf Temperatur gebracht werden, bevor das System in seiner Gesamtheit verwendet werden kann. Bei allem Dasein als Supersportler muss immerhin auch der McLaren Artura sich aktuellen Emissionsgesetzen beugen …

Altes Getriebe, neu interpretiert


Bis jetzt noch gar nicht behandelt wurde das Getriebe. Der Grund dafür ist schlicht, dass ihm mehr als nur ein Beisatz gebührt. Es handelt sich um eine Doppelkupplungs-Automatik mit acht Gängen, aber ohne Rückwärtsgang. So konnten kompakte Ausmaße erreicht und gleichzeitig die Effizienz des Autos erhöht werden. Und machen konnte man das schlicht und ergreifend, weil ja eh ein E-Motor an Bord ist. In welche Richtung dieser sich dreht, ist ihm – auf gut Österreichisch – wurscht. Also: Rangieren übernimmt komplett der E-Motor, bei allem das Spaß macht, übernimmt der Verbrenner die erste Geige. Und keine Sorge: Selbst wenn der Bordcomputer keine verbleibende Reichweite in den Akkus anzeigt, muss man keine Angst haben, den Wagen selbst rückwärts in die Garage schieben zu müssen. Dafür gibt’s immer Reserven. Außerdem kann der Turbo-Murl ja jederzeit neuen Saft erzeugen.

Quasi gleich im Anschluss ans Getriebe wartet dann noch eine weitere Neuheit: McLarens erstes elektronisch gesteuertes Differential. Dieses erhöht nicht nur prinzipiell die Agilität des Artura, sondern ermöglichte den Ingenieuren auch in Sachen Elektronik neue Register zu ziehen. Mittels einfachen Tastendruck im Cockpit kann die Traktions- und Stabilitätskontrolle des Autos nämlich von „voll“ in zwei Stufen reduziert werden. Auf „dynamisch“ oder auf „off“. Der Clou an der mittleren Stufe: Ist diese ausgewählt, kann über das zentrale Touchdisplay des Autos der maximal erlaubte Driftwinkel in 15 Stufen justiert werden, wobei die höchste schon durchaus dazu taugt, durchs Seitenfenster den Kurvenausgang anzupeilen.

Halt mich fest


Das bringt uns zum Interieur; einem Ort zum Wohlfühlen. Mit den richtigen Extras auf der Einkaufsliste verbinden sich Alcantara und Karbon hier gemeinsam mit einem fantastischen Bowers & Wilkins Soundsystem, erstklassigen, einteiligen, aber gerade in rechtem Maße verstellbaren Schalensitzen und einem Lenkrad, dass wirklich einzig und allein die Aufgabe hat die Richtung vorzugeben, zu einem wahren Mekka für Fans des Fahrens an und für sich. Der Seitenhalt ist immens, die Sitzposition tief, die Übersicht überraschend gut und die beiden, links und rechts neben dem Tacho angebrachten Wahlschalter für Fahrwerks- und Antriebssetup immer in Reichweite der Fingerspitzen. Hier kann dann übrigens auch das Fahrwerk mit seinen adaptiven Dämpfern justiert werden, wobei die mögliche Spreizung von „für ein Supercar erstaunlich komfortabel“ bis hin zu „knochentrocken“ reicht.

Einzig darüber hinaus, also in Sachen Bedienergonomie und Elektronik muss man ein paar Abstriche machen. Die komplette Steuerung etwa läuft sodann mittels kleiner Hebel hinterm Volant, was einiges an Eingewöhnung und Feingefühl erfordert. Und auch das Infotainment selbst ist nicht unbedingt das ausgereifteste, das wir je getestet haben. Aber hey: Apple Carplay funktionierte anstandslos. Damit ist im Grunde ohnehin die Welt in Ordnung. Und für alles andere arbeitet McLaren bereits an einem Update.

FAZIT

McLaren ist mit dem Artura ein beeindruckender Spagat gelungen: Man hat ein top-modernes PHEV-Supercar gebaut; mit allen Implikationen, die das mitbringt. Der Antrieb ist also effizient und clever (Stichwort kein Retourgang), das Fahrgefühl aber dennoch „oldschoolig großartig“. Lenkung und Bremsen sind unfassbar feinfühlig und mitteilsam, das Fahrwerk für alle Eventualitäten vorbereitet, der Antrieb antrittsstark sowie auf Wunsch brutal kräftig und der ausgestoßene Klangteppich lässt zwar schon dann und wann die zwei verloren gegangenen Zylinder vermissen, kommt aber dennoch unverwechselbar und immer noch mehr als „würdig“ daher. Und was sollen wir sagen: Spätestens wenn man die Flügeltüren aufschwingt, verströmt der Artura so viele Supercar-Vibes, dass es kaum jemanden im als Fotolocation auserkorenen Bad in der alten Werft in Korneuburg auf seiner Sonnenliege hielt.


Technische Daten:


McLaren Artura
Hubraum | Zylinder
2.993 cm3 | 6
Systemleistung 680 PS (585 + 95 PS)
Drehmoment 720 Nm
0-100 km/h | Vmax 3,0 s | 330 km/h
Getriebe | Antrieb 8-Gang aut. | Hinterrad
Ø-Verbrauch | CO2 4,6 l S | 104 g/km (EU6d)
Kofferraum | Leergewicht 160 l | 1.395 kg
Garantie Fahrzeug | Batterie 5 Jahre | 6 Jahre / 75.000 km
Basispreis | NoVA 235.148 (inkl.) | 0

Das gefällt uns: der moderne Antrieb, vor allem weil Lenkung und Bremsen „oldschool“ blieben
Das vermissen wir: ein Software-Update
Die Alternativen: Ferrari 296 GTB/GTS, Chevrolet Corvette E-Ray

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