Formel 1: News | 01.11.2003
„Gute Fahrer sind wie Metronome“
BAR-Technikdirektor Geoff Willis plaudert aus dem Boxenfunk-Nähkästchen: Was die F1-Piloten während des Rennens so zu hören bekommen...
Der gläserne Pilot. Ein Begriff, der seit der Einführung der Telemetrie in aller Munde ist. Ein Formel 1-Pilot muss damit rechnen, dass seine Runden bis ins kleinste Detail von den Technikern seziert werden. Jeder Fehler, so ferne die Elektronik noch welche erlaubt, wird offensichtlich. Die weltbesten Autolenker sind bei ihren bis zu zweistündigen Rennausflügen alles andere als alleine. Am Boxenfunk wird heftig kommuniziert, taktiert und zuweilen auch angetrieben...
Geoff Willis, Technikdirektor bei BAR-Honda, plauderte nun auf der Homepage des Teams ausgiebig – nicht aus dem Nähkästchen, sondern eher aus dem Kopfhörerchen. Willis erklärt: „Sehr wichtig ist beim Boxenfunk, dass die Fahrer dazu angehalten werden, ihre anvisierten Rundenzeiten zu erreichen. Jede Rennstrategie unterliegt der Voraussetzung, dass die Piloten schnell genug sind - das heißt, sie müssen in jeder Runde die Vorgabe erreichen. Daher schikanieren wir sie auch ein wenig. Wir sagen: ‚Du bist drei Sekunden hinter der Vorgabe’ oder ‚Du musst in den nächsten sieben Runden drei Sekunden gutmachen’.“
Nach jeder Runde kommt das „Urteil“ über die Helm-Kopfhörer
Nach jeder Runde kommt dann das „Urteil“ über die Kopfhörer: „Nach jeder Runde sagst du: ‚Ja, das war eine gute Runde, du musst dies gleich noch mal wiederholen’ oder du sagst: ‚Nein, das war nicht gut genug, du bist nur 1:24,2 Sekunden gefahren, du brauchst aber eine 1:23,5.“Oft wird gar nicht wenig gesprochen: „Jacques Villeneuve’s früherer Renningenieur Jock Clear, beispielsweise, sprach immer wieder zu Jacques, sagte Dinge wie ‚Gute Runde, du brauchst noch drei weitere von der Art, dann werden wir den Boxenstopp ordentlich absolvieren und danach wirst du den Fahrer vor dir aus der Boxengasse heraus schlagen.“
Willis fügt hinzu: „Aber wir schikanieren die Piloten auch auf eine nette Art und Weise. Die Fahrer unterscheiden sich in ihrer Konsistenz, doch die Besten fahren sehr konstante Rundenzeiten. Am Ende des Rennens betrachtest du die Liste aller gefahrenen Rundenzeiten. Bei den Top-Piloten siehst du dann – wenn die Spritmenge und der Reifenverschleiß weniger werden, sinken ihre Rundenzeiten in jeder Runde um 0,05 bis 0,1 Sekunden.“ Klarerweise gebe es Ausnahmen wie Verkehr, Überrundungen.“
Dann übt sich Willis in einem Vergleich: „Das läuft dann ab wie bei einem Metronom. Die Michael Schumachers dieser Welt sind exakt wie ein Metronom.“ Dieses Metronom möchte aber gegebenenfalls auch wissen, was sich rund um ihn so tut. Willis: „Was wir unseren Fahrern am Funk auch vermitteln wollen, ist sie darüber zu informieren, was die anderen Piloten tun. Unter gewissen Voraussetzungen wissen sie auch über ihre relativen Spritladungen Bescheid. Wenn also Jacques ein Problem hat und er möchte wissen, wie der Zustand der Strecke ist, sagen wir: ‚Jenson fährt gerade eine 1:23,4 Minuten-Runde. Jacques weiß dann, dass er hingegen nur eine 1:24,1 gefahren ist und besser aufs Gas steigen sollte. Oder wir sagen ihm: ‚Das ist gut so, wenn du das über die nächsten vier Runden halten kannst, erreichst du deine Vorgabe.“
Diese Vorgaben stehen laut Willis in Relation dazu, „gegen wen man fährt.“ Willis gibt ein Beispiel – Mathematiker und Taktikliebhaber werden ihre Freude haben: „Zum Beispiel, wenn du von jemandem, der auf einer anderen Strategie unterwegs ist, aufgehalten wirst und derjenige fährt dann an die Box. Dann weißt der Fahrer, dass er in sechs Runden ebenfalls an die Box muss und dass er daher in den nächsten sechs Runden sich mächtig anstrengen muss, um vor dem Konkurrenten zu landen. Und angenommen du weißt, dass dein Boxenstopp beispielsweise um 1,5 Sekunden länger dauert und du liegst eine halbe Sekunde hinter dem Vordermann, dann weißt du, das du in den nächsten sechs Runden mindestens zwei Sekunden gutzumachen hast. Allerdings wenn der Konkurrent rausfährt, ist er mit neuen Reifen eventuell schneller unterwegs, also solltest du lieber 2,5 Sekunden in diesen sechs Runden gutmachen, denn ansonsten wird dein Konkurrent abermals vor dir liegen.“
„Mische mich nur ein, wenn eine Seite nicht weiß, was die andere tut“
Bei BAR gibt es – wie bei den meisten anderen Teams auch – zwei Funkkanäle. „Die Senior Guys haben aber die Möglichkeit, auch untereinander zu kommunizieren. Die zwei Senior-Renningenieure – Jock Clear und Craig Wilson – sprechen während des gesamten Rennens miteinander. Sie verbinden die beiden teaminternen Teams untereinander. Und ich kann mit jedem von ihnen sprechen. Ich spreche aber nicht viel am Funk. Nur wenn ich den Eindruck erhalte, dass die eine Seite nicht weiß, was die andere tut, lasse ich sie das wissen.“„Fahrer wissen ja, wenn sie Probleme haben. Und daher vergewissern wir uns immer, dass die eine Seite, sobald sie einen Zeitpunkt für einen Stopp ändert, dies auch der anderen Seite mitteilt. Wenn beide in Runde 36 stoppen wollen, hat der führende Pilot die erste Wahl.“
Auch über das Fahrzeugverhalten wird auf den Kanälen kommuniziert: „Was sehr wichtig ist: Wenn wir beispielsweise Jenson fragen, wie sich sein Fahrzeug verhalten habe. Er gibt dann nicht unbedingt seinem Teamkollegen einen Tipp, er sagt dann nur, dass seine Reifen in den letzten beiden Kurven begonnen haben, abzubauen. In diesem Fall würde dies Jock Clear hören und zu Jacques sagen, er solle es auf seiner Outlap behutsamer angehen, um die Reifen zu schonen.“
Die Spritmenge spielt laut Willis keine wirkliche Rolle – die Vorgaben an Rundenzeiten werden vorberechnet: „Es ist egal, wie viel Sprit im Auto ist, die Fahrer müssen einfach ihre Vorgabezeiten erreichen. Wenn also eine Runde mit leerem Tank 1:21 Sekunden ausmacht und eine Rundenzeit mit 50 kg Sprit wäre 1:23,2 Sekunden und du würdest 1:23,3 Sekunden fahren, wärst du einen Platz hinter der Position, wo du sein solltest. Und wenn du eine 1:22,9 schaffst, kannst du einen Platz gewinnen. Daher ist die Spritmenge egal, wir können die theoretisch mögliche Position der Piloten ausrechnen und die Piloten müssen die Vorgaben erreichen.“
Alles wird aber auch nicht am Funk besprochen: „Die Leute hören andere Funkeinheiten ab, daher bevorzugen wir Face-To-Face-Gespräche. Obwohl man die Kanäle verschlüsseln kann, aber das ist extrem aufwendig und teuer – und es betreiben nur noch wenige Teams eine Verschlüsselung. Es ist daher für alle Konkurrenten technisch möglich, den Funk des Mitbewerbers abzuhören. Und manchmal bekommst du sogar den lokalen Taxifunk rein...“