
Rallye: Kommentar | 31.10.2024
FIA vs WRC: Das Schlechte kommt von oben
Man glaubt es kaum: Lancia will zurück in die WRC - doch die FIA ist regeltechnisch hilflos wie selten zuvor. Was jetzt helfen würde…
Noir Trawniczek
„Ein WRC-Comeback von Lancia liegt in den Händen der FIA“, titelt die renommierte Rallye-Website dirtfish.com - und man denkt unweigerlich: „Oh nein, bitte nicht…“
Der Hintergrund: Nach rund 30 Jahren kehrt mit Lancia eine Kultmarke zurück in den Rallyesport, effektiv handelt es sich immer noch um den bis heute erfolgreichsten Automobil-Hersteller in der Rallye-Weltmeisterschaft (WRC). Dieser kehrt nun also zurück in den Rallyesport - allerdings nur mit einem Rally4-Auto. „Das Rally4-Programm ist sicher nicht genug, Lancia verdient ganz sicher mehr“, schreibt Autor Alasdair Lindsay völlig zu Recht in dem eingangs erwähnten dirtfish-Artikel. Ein solches Comeback könne man damit vergleichen, dass jemand nur die große Zehe ins Wasser hält, anstatt sich bereitwillig ins kühle Nass zu begeben - ein schönes Bild, doch warum ist das so?
Das hat zwei Gründe. Erstens: Seit 2021 gehört Lancia der Stellantis Gruppe an. Dort müssen auch die anderen Marken vom Vorstand ihr Okay erhalten, wenn sie ein Motorsport-Projekt starten wollen. Und das erhält man heutzutage nur noch, wenn ein Gegenwert erzielt werden kann. Zum Beispiel in Form von Werbung für die Straßenautos - aus diesem Grund sieht man nicht die „PS-Monster“ der Hersteller im Rallyesport, sondern durchschnittliche „Einkaufswägen“ wie einen Citroen C3 oder einen Hyundai i20 N in Rallye-Versionen. Bei Lancia soll der HF Rally4, gemeinsam mit dem zweifachen Weltmeister Miki Biasion den elektrischen Ypsilon HF4 bewerben. Man hat also ein prinzipielles Okay des Boards für ein Rallye-Marketing - und man wäre sogar bereit für den Einstieg in die oberste Spielklasse.
Lancia will zurück - doch nur mit Regelklarheit
Wie wichtig Stellantis das Lancia-Comeback eigentlich wäre, zeigt, dass man mit Eugenio Franzetti den Leiter von DS Motorsport nun auch als Direktor von Lancia HF Corse positioniert hat. Und: Franzetti wird in besagtem Artikel mit den Worten zitiert: „Wir wollen eine Rallye-Weltmeisterschaft mit vielen Piloten, mit vielen Autos, mit vielen Herstellern.“ Doch zugleich räumt Franzetti ein, und damit sind wir bei zweitens: „Bevor wir irgendwelche weiteren Entscheidungen treffen, brauchen wir klare Regeln für WRC1 und WRC2 und auch Klarheit über die Kosten, die dabei anfallen.“ Nur so könne man kalkulieren, ob sich die Investition auszahlen und man also vom Board das Okay erhalten würde - und freilich sei man für „niedrigere Kosten“ als sie in der Gegenwart anfallen…
FIA auf dem Rallye-Sektor komplett hilflos
Klare Regeln möchte man also - doch genau das ist das große Problem. Denn die Oberste Motorsportbehörde FIA wirkt vor allem im Bereich Rallye seit Jahren geradezu hilflos. Mit Rally1 und dem damit verbundenen Hybrid-Antrieb hat man eine sündteure Top-Kategorie geschaffen, die gerade einmal für maximal zehn Autos pro Rallye reicht. Der Hybrid-Antrieb ist immens teuer, wird aber überhaupt nicht als solcher wahrgenommen, taugt also rein gar nicht für ein umweltfreundliches Marketing. Zuletzt wurde hier mehrfach hin und her gerudert. Es gab - nicht unkluge - Überlegungen, die gescheiterte Rally1 komplett fallen zu lassen und stattdessen aufgepeppte Rally2-Autos zu einer neuen Top-Kategorie zu machen. Doch dabei spielten, so sagt man, die in der WRC vertretenen 2,5 Hersteller (Hyundai, Toyota und M-Sport) nicht mit. Zuletzt gab es Pläne, die Rally1 ohne Hybrid-Antrieb fortzusetzen, was wenig später verworfen wurde, jetzt allerdings wieder überlegt wird…
Auch beim Punktesystem wird nahezu jährlich herumgedoktert - man könnte sagen: Die FIA ist bei ihrer Regelerstellung verlässlich mindestens einen Schritt hintennach. Heuer kam ein neues Punktesystem, mit dem der Sonntag aufgewertet werden sollte. Mit diesem System wurde jedoch der Rallye-Sieg abgewertet - außerdem ist es kompliziert. Nun soll für 2025 wieder ein neues System eingeführt werden…
Es ist der FIA durchaus zuzutrauen, dass sie das System so lange ändern wird, bis sich irgendwann gar niemand mehr damit auskennen wird. Bei den Fahrzeug-Kategorien der sogenannten „FIA-Pyramide“ hat man es bereits geschafft. Es ist heutzutage nur noch mit sehr viel Liebe möglich, einem Außenstehenden zu erklären, warum manche Autos der Kategorie Rally2 und andere der Kategorie R5 angehören und dass diese Bezeichnungen eigentlich die genau gleiche Kategorie meinen…
Formel 1-Orientierung erschlägt den „alten Geist“
Der WRC Promotor kann hier, so scheint es, nur tatenlos zusehen, wie man die Weltmeisterschaft seitens der FIA zu Grabe trägt. Der Promotor selbst macht einen guten Job, hat das Online-Angebot auch gleich für die Europameisterschaft auf einen top modernen Stand gebracht. Man kann heute mit einem Bezahl-Account in jedem Cockpit mitfahren, man erhält sämtliche Infos in Realtime. Auch die Vermarktung über Red Bull Content Pool ist höchst professionell…
Dass man bei Veranstaltungen wie „Sepp Haider - 50 Jahre quer“ dennoch der „goldenen Rallye Vergangenheit“ nachweint, liegt daran, dass es heutzutage nur noch äußerst selten echte Charakterköpfe an die Spitze des Sports schaffen. Ein Thierry Neuville kann in Zivilkleidung an den meisten Plätzen wohl völlig unerkannt durch Großstädte laufen, die Fahrer wirken heute wie perfekte Schwiegersöhne, geradlinige Typen mit Ecken und Kanten sind selten geworden - zu sponsorenhörig ist das Umfeld geworden. Hersteller wie Hyundai versuchen, wie in der Formel 1 aufzutreten und erschlagen mit ihrer sterilen Professionalität genau jenen Geist, den die Rallyefans so sehr geliebt haben. Dass die Rallye-Autos heute keine Gesichter mehr haben, liegt wohl daran, dass auch die Straßenversionen mittlerweile nahezu identisch aussehen. Den echten Geist der alten Tage wird man also in der aktuellen Weltmeisterschaft nicht mehr wiederbeleben können.
Öffnung und Abrüstung die einzige Lösung
Aber: Was der Rallye-WM helfen würde, wäre wenn man anstatt der Formel 1 nachzueifern und ein paar wenigen Herstellern das „Goderl“ zu kraulen eine echte Öffnung und eine echte finanzielle Abrüstung vornehmen würde. Rally2-Autos als Basis, dazu ein relativ frei gestaltbares Bodywork - kostengünstige Rennformel mit simplem, leicht zu verstehenden Regelwerk. Es würden mehr Hersteller kommen und auch Private hätten die Möglichkeit, sich mit ihnen zu messen.
Eine solche neue Top-Kategorie hätte umgehend mindestens 25 Teams - und: Man könnte sich über ein Comeback des erfolgreichsten Herstellers aller Zeiten freuen. Denn wie sagt Miki Biasion in dem eingangs erwähnten Artikel: „Wenn die FIA etwas ändern würde, könnten wir zu träumen beginnen….“
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