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Helmut Zwickl Kolumne

Gedankenfreiheit für Konstrukteure

motorline.cc-Stargastautor Helmut Zwickl huldigt Ross Brawn als genialen Grenzgänger – die neuen Autos seien blitzhässlich, aber überholfreundlich.

Von Helmut Zwickl

Als Mercedes-Benz 1954 in Reims sein Nachkriegs-Comeback auf den Grand Prix-Pisten feierte, war der W196 von Fangio und Kling ein Rennauto voller technischer Evolutionen: der Motor besaß Direkteinspritzung, ein Magnesium-Kurbelgehäuse, eine desmodromische Ventilsteuerung, die 3 Sekunden lang 9000 U/min. zuließ - somit eine Art frühzeitliches «KERS» - weiters eine aufwendige Radaufhängung, der Sturz der Hinterräder war vom Cockpit aus verstellbar, die Stromlinien-Karosse war aus Magnesiumblech.

Fangio-Kling feierten im Premieren-Rennen sofort einen Doppelsieg – wie Button-Barrichello in Melbourne. Der neue Brawn-Renner hat sicher weniger Innovationen als seinerzeit die Mercedes, aber er hatte immerhin in einem Auto, das noch mit Honda-Geldern entwickelt wurde, einen Mercedes-Motor. Aber vom Motor spricht man heute kaum noch, als wäre er ein notwendiges Übel.

Die Überlegenheit der Brawn-Autos ist auf Ross Brawn selbst zurückzuführen: keiner liest das Reglement genauer, kein anderer Techniker denkt sich in jene Regionen vor, die selbst für die Regelmacher schwarze Löcher sind. Mit dieser Denkweise über den Tellerrand hinaus, hat er schon Ferrari zu unerreichten Siegesserien geführt. Natürlich ist er ein totaler Grenzgänger, der den technischen Rubikon gerne mal überschritt, aber das waren vor ihm auch Leute wie Colin Chapman, Gordon Murray, Maurice Philippe, Adrian Newey, oder Motoren-Männer wie Keith Duckworth und Mario Illien und wie sie alle hießen.

Jetzt jammern alle über den Doppeldecker-Diffuser der Brawn-Boliden, der genauso ein Geistesblitz war, wie die federnlose Zwangsventilsteuerung, die der Mercedes-Ingenieur Hans Gassmann vor 57 Jahren in der Straßenbahn, am Weg in die Firma, auf einem Fahrschein skizzierte.

Das schlimmste wäre, wenn das Berufungsgericht dem Protest von Red Bull, Ferrari und Renault stattgibt und man dieses, fast würde ich sagten, letztes Stück Gedankenfreiheit, zumauert.

Aber ist es wirklich nur dieser «Doppelecker»-Diffusor, der die Siegerauto von Melbourne so schnell macht?
Rubens Barrichello meinte nach dem Rennen, bei dem Startcrash sei übrigens sein Diffuser «zerstört» worden...
Trotzdem wurde er noch Zweiter.

Das neue Reglement hat blitzhässliche Autos ausgebrütet. Man hat sie aerodynamische abgerüstet, aber die Slicks haben die gewollte Speedreduktion mehr als kompensiert. Jedoch der Zweck heiligt die Mittel: man kann wieder nahe genug an den Vordermann ranfahren, daher gab es prächtige Nahkämpfe in Melbourne.

Über KERS kann man sich noch kein rechtes Bild machen. Aber auf bestimmten Strecken wird man es haben müssen, um leichter überholen zu können.

Und was den umstrittenen Diffuser betrifft: wenn die Brawn-Lösung nicht verboten wird, muß die Konkurrenz
ihre Autos umbauen. Eine harte Strafe für die Protestierer, die das Thema der Schularbeit etwas verfehlt haben.

Autor Helmut Zwickl ist neben seiner langjährigen Tätigkeit als einer der führenden deutschsprachigen Motorsportjournalisten auch Veranstalter der Ennstal-Classic, alle Infos dazu finden Sie unter www.ennstal-classic.at

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