Erinnerungen eines Sportreporters: Ich bin ein Star, oder? | 12.02.2021
Ich bin ein Star, oder?
Vermeintliche Stars gibt es in der Sport-Szene vermeintlich viele. Peter Klein widmet seine neue Kolumne den aus seiner Sicht echten Stars, im Sport und abseits davon.
Ok, es ist kein aktueller Sternenhimmel, aber dieser Schnappschuss ist mein Bildschirmschoner und heute auch Ideengeber für eine neue Geschichte. Nein, diesmal handelt es sich nicht um einen speziellen Motorsportler, nix mit Rallye oder so, also nur bei besonderem Interesse weiterlesen! ;-) Ich mache mir auch Gedanken über die Kollegen in den diversen Medien. Über den Stil, die Sprache und den Missbrauch von Fremdwörtern und Floskeln. Es macht mich krank, wenn von einem „Star“ geschrieben wird, weil dieser unfallfrei den Ball getroffen und dieser irrtümlich den Weg ins gegnerische Tor gefunden hat.
Wenn ein Skifahrer mit Startnummer 37 an den Start geht, gleichzeitig die Sonne aus dem Nebel bricht und der neue „Star“ aufs Stockerl fährt. Wenn ein Athlet mit sechs Hundertstelsekunden Rückstand auf dem undankbaren vierten Platz landet, oder auch wie viele sogenannte „Stars“ wir generell in Österreich haben. Wenn dem Reporter die geistreiche Frage über die Lippen kommt: „Wie war der Schnee?“, oder auch „was nehmen Sie nach dem 12. Rang mit?“, um nur wenige Beispiele zu nennen …
Da ziehe ich ein Resümee (zu deutsch: Fazit) und denke über die echten Stars nach, die mir in meinem sportlichen Leben begegnet sind. Jochen Rindt zum Beispiel, dessen Bild sogar heute noch im Rennbüro von Invercargill auf der Südinsel von Neuseeland zu finden ist. Annemarie Pröll war im März 1978 in Bad Kleinkirchheim unruhig vor dem Start zur Abfahrt als sie mich mit Kamerateam entdeckte. „Wos rauchst‘n du?“, wollte sie wissen. „Winston“, war die höfliche Antwort. „Geht a, gib ma ane“, bat Annemarie, zog etwa fünf, sechs Mal kräftig an der Zigarette, begab sich wenige Sekunden später ins Rennen und verwies die Amerikanerin Cindy Nelson und die Schweizerin Marie Therese Nadig auf die Plätze.
Oder auch Walter Röhrl, der für vier verschiedene Automarken die Rallye Monte Carlo gewinnen konnte. Und nicht zuletzt Friedensreich Hundertwasser, dieser geniale Maler, Umweltschützer, Architekt und Rebell für ein menschengerechtes Bauen. Ein wenig Lächeln lässt mich die Tatsache, dass das Wahrzeichen von Kawakawa, einer kleine Ortschaft auf Neuseeland mit rund 1.500 Einwohnern, die „Hundertwassertoilette“ in der Gillies Street ist … Und das sind nur einige, die für mich wirkliche „Stars“ sind.
Zu den Stars meines Lebens zähle ich aber auch Menschen, die wohl kaum einem Leser von Motorline.cc , oder auch sonst sportinteressierten Menschen bekannt sind. Es war im Jänner 1973 als ich erstmals mit dem Behindertensport in Berührung kam und ich gebe zu, ich hatte damals Berührungsängste. Soldaten kamen aus dem 2. Weltkrieg schwer verletzt zurück in die Heimat. Jugendliche, ja auch kleine Kinder wurden im Bombenhagel zu Menschen ohne Arme oder Beine, verloren ihr Augenlicht.
Im Verlauf der Nachkriegsjahre kam aber nicht nur Bewegung ins Land, auch invalide Menschen wollten Sport betreiben, wollten nicht gelähmt ihr Dasein im Rollstuhl fristen. Die Geschichte des Behindertensports kann man googeln, nicht aber meine Ängste an jenem Drehtag, als ich von den Invaliden-Skimeisterschaften berichten sollte. Da saßen sie in einer Schüssel, die auf einem Ski montiert war, standen auf einem Bein, oder hatten keine Arme um Skistöcke zu halten.
Mein Verdrängungsprozess war enorm, ich sah keine Einbeinigen, keine Armamputierten und kniete mich einfach hin zu den Gelähmten im Rollstuhl. Und was ich sah war nicht Leid, Verzweiflung oder Resignation, nein, die Augen funkelten vor Lebenslust, Gier und Aufregung vor dem Wettkampf, Kraft und Siegeswillen war zu sehen und erstmals hörte ich den Satz: „Wir sind nicht behindert, wir werden nur behindert…“
Ich betreute Österreichs Behindertensport zehn Jahre lang, dann galt mein Hauptinteresse aber doch dem Rallyesport, den damit verbundenen Reisen und ein junger Kollege übernahm 1982. Fünfzehn Jahre später wechselte mein Nachfolger zum privaten Fernsehen und so sollte ich wieder einmal einen Beitrag über ein Weltcuprennen für Körperbehinderte in Abtenau gestalten. Es gab mehr Sendezeit, denn für die heimischen Teilnehmer war es auch die letzte Qualifikation für die Paralympics 1998 in Nagano zwei Wochen nach den olympischen Spielen. Damals, als Hermann Maier zwar zweifacher Olympiasieger, aber eigentlich zuvor durch seinen kapitalen Sturz in der Abfahrt weltberühmt wurde … Ich freute mich auf diese Dienstreise ins Salzburger Land, war neugierig, wie sich der Sport wohl weiter entwickelt hatte, neugierig auf die mir unbekannten Athleten.
Und dann sah ich sie wieder, ohne Arme oder Beine, querschnittgelähmt auf dem Monoski, mit Partner als Vorausfahrer, weil selber blind. Und ich bemerkte, wie sehr sich dieser Sport verändert hatte, wie aus einstigen Hobbysportlern, austrainierte Athleten geworden sind. Und ich konnte feststellen, dass auch die neue Generation Gier und Aufregung vor dem Wettkampf, Kraft und unbändigen Siegeswillen hatten. Ich bemerkte, wie sie mich taxierten, den „Neuen vom Fernsehen“. Ein wenig misstrauisch, skeptisch, ob ich wohl ihre Leistungen zu schätzen wüsste.
Es war ein großer bunter Haufen an einem strahlenden Samstag Vormittag, mehr als 120 Teilnehmer aus etwa 18 Ländern, Wintersportler mit Behinderungen. Funktionäre, Betreuer, freiwillige Helfer und eigentlich war es wie bei einem ganz normalen Weltcuprennen. Und dann sah ich SIE – inmitten der querschnittgelähmten Teilnehmer. Ich sah ihr langes, prächtig gewelltes braunes Haar, die schlanke und doch so weibliche Figur in einem Rennanzug, hörte das glockenhelle Lachen, dann drehte SIE sich um und mir war im Moment, als ginge die Sonne noch einmal auf.
Ein blutjunges, bildhübsches Mädchen mit aufgeweckten, neugierigen Augen, blitzenden Zähnen und herzerwärmenden Lächeln. Sicher eine Volontärin aus einem der umliegenden Gymnasien, dachte ich als ich näherkam und dann bemerkte ich es, diese Schönheit stand auf einem Bein. Fassungslos starrte ich auf eine Startnummer die aus dem Anorak hing und dachte nur: WARUM? Warum fehlt diesem wunderschönen Geschöpf ein Bein? Sie wirkte nicht traurig, im Gegenteil, Optimismus strahlte aus ihrem Gesicht, Kampfgeist und ein liebevoll spöttisches Lächeln, als würde sie meine Gedanken lesen, meine Unsicherheit spüren. Und schlagartig wurde mir klar: das ist meine Geschichte, dieses Mädchen wird Hauptthema in meinem nächsten Film. Ich bat sie um ein Interview. „Später, ich muss mich jetzt ein bissl einfahren“, sagte sie, griff nach zwei Krücken mit kurzen Skiern, stieg mit dem linken Fuß in die Bindung und brauste davon.
Ich zerrte die Startliste aus meinem Anorak, Startnummer 27, Nicola Lechner, gerade mal 21 Jahre jung, Oberschenkel amputiert. Was werde ich sie fragen, rast es durch meinen Kopf, was kann ich, darf ich sie fragen ohne verletzend zu sein? „Wenns‘t magst, kannst mich jetzt interviewen, einfahren tu ich mich später“, hörte ich ihre Stimme und drehte mich zu ihr. Sie hatte vermutlich nur eine Denkpause gebraucht, ob sie mit „dem Neuen vom Fernsehen“ überhaupt reden sollte. Noch immer dieses Lächeln, ich spürte ihr Vertrauen, fasste Mut und stellte meine Fragen, alles, was ich von ihr wissen wollte.
Sie erzählte von ihren Eltern, wo sie aufgewachsen war, als kleines Mädchen schon so gerne auf Skiern stand und über die Musik, die sie mochte. Und dass sie ihr Bein verlor, damals, vor ein paar Jahren, nach einer schweren Krankheit. Dass sie gerne tanzen würde, nach „Dancing Queen“ von ABBA und dass sie zur Uni ginge. Was studierst Du, wollte ich wissen? „Medizin“, war die Antwort und fast schon trotzig „ich will einmal Ärztin werden.“ Nicola wurde in Abtenau Zweite in der Abfahrt, tags darauf Dritte im Super G und schaffte locker die Qualifikation für die Paralympics 1998.
Ein Jahr später in Nagano sahen wir einander wieder und Nicola wurde zur vierfachen Medaillengewinnerin. Drei Mal Silber in Abfahrt, Riesentorlauf und Slalom, dazu Bronze im Super G. Wie geht es mit dem Studium, wollte ich wissen? „I war a bissl faul, hab mich auf Nagano vorbereitet, aber ab Herbst wird es ernst“, war die Antwort. 2002 in Salt Lake City sah ich sie wieder. Nicola war eine erwachsene, selbstbewusste, attraktive Frau geworden, aber noch immer hing ihr Herz am Skisport.
Wie geht es mit dem Studium, wollte ich erneut wissen? „No oa Joahr dann bin i fertig“, strahlte sie mich an und holte tags darauf Bronze im Riesentorlauf. Danach verloren wir uns aus den Augen, haben einander nie mehr gesehen. Aber ich dachte oft an sie, an damals, als sie zum ersten Mal vor mir stand, auf einem Bein und die Sonne an diesem Tag zwei Mal aufgegangen war. Als sie ihre Medaillen strahlend in Empfang nahm,- nie mit ihrem Schicksal haderte. Und dieser Tage dachte ich wieder an sie, noch ehe ich begann, diese Geschichte zu schreiben. Was ist aus ihr wohl geworden, hat sie ihr Studium beendet, ist sie Ärztin geworden, eine Familie gegründet, ist sie glücklich in ihrem Leben auf einem Bein?
Und so begann ich nachzuforschen, suchte sie im Internet und fand eine auch im bürgerlichen Leben erfolgreiche Frau. Nicola ist Ärztin an einer Unfallchirurgie mit Fachrichtung Transfusion und Traumatologie, sie gehört auch heute noch zu meinen ganz privaten Stars. Und sie trägt noch immer ihren Mädchennamen.
Im zweiten Teil meiner Geschichte erzähle ich euch kommende Woche, wie Hermann Maier unbewusst die Paralympics unterstützte, sein Landsmann 2004 in Athen den Behindertensport revolutionierte – und wie grausam Auftragsjournalismus sein kann.